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Juli 2005 - Eine Veloreise von Den Haag nach
Berlin
Unterwegs
auf dem Europaradweg R1
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Und
hier gibt's erstmal den kompletten Bericht ohne Fotos als PDF-File
(302 KB)
Nein wirklich! Im Ernst jetzt!
Hab ich nicht in den letzten zwölf Monaten seit unserer phänomenalen
Reise von Zürich nach Aigues-Mortes fast alle 1:200.000er
Michelin-Landkarten käuflich erworben, sodass es mittlerweile
in (fast) ganz Frankreich keinen Landstrich mehr gibt, den ich
nicht ausgiebigst beplanen und anschliessend beradeln könnte?
Wurden nicht schon im Winter mögliche Routen angedacht und
teilweise ausgearbeitet, beinahe schon mit neon-gelbem Marker
auf das Papier der Karten gezeichnet? Hab ich nicht überall
herum erzählt, dass wir dieses Jahr von Basel bis zum Ärmelkanal
wollen? Hab ich ihn nicht bereits auf der Zunge gespürt,
den Geschmack Elsässer Weine? Im Geiste schon einen Armagnac
nach feudalem Male bestellt? Und nun das! Da trifft man sich das
erste Mal seit längerer Zeit wieder, rechnet mit nichts anderem
als einem gemütlichen Gelage bei italienischer Küche,
und dieser Reinhard kommt so mir nichts, dir nichts mit einer
Einkaufstüte voller Prospekte, Landkarten und Reiseführer
angerauscht - alles Mitbringsel seiner erst kurz vorher absolvierten
Radreise - und macht mir mit seinen Ausführungen den Mund
dermassen wässrig, dass Margrit und ich tags drauf mit einem
Bündel Zugtickets, Platzreservierungen und einem breiten
Grinsen aus dem Oerlikoner Bahnhofsgebäude treten. Denn Reini
ist von Den Haag nach Berlin geradelt. Schwärmt da zum Beispiel
von Quedlinburg und Goslar, von interessanten Landschaften, Städten
und diversen UNESCO-Weltkulturerben und lullt mich dermassen ein,
dass ich auch noch meine Frau damit anstecke und alle Frankreich-Pläne
auf einmal passé sind. Nun denn, man will ja flexibel bleiben
und besonders in fortgeschrittenem Alter gilt es auf der Hut zu
sein, um nicht zu stur und verbockt zu werden. Darum wollen wir
einfach mal tun, was dem Augenblick und der Stimmung gerecht wird.
Beweglich sein! Auch im Geiste! Basta!
Zudem kommen die Zugverbindungen
unseren geänderten Reiseplänen auch noch entgegen, denn
von Zürich nach Amsterdam gibt es einen Nachtzug mit Velo-Mitnahme,
die City-Night-Line. Das Gleiche gilt für den Rückweg
von Berlin nach Zürich. Von Amsterdam bis Den Haag können
die Räder dann in jedem Zug transportiert werden - ist eh
nur ein Katzensprung. Und da wir beide noch nie in Berlin waren,
planen wir auch noch zwei Besichtigungstage in der deutschen Hauptstadt
ein und reservieren per Internet ein Hotelzimmer. So einfach kann
das Leben sein.
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Da wir für den Nachtzug
am Freitag keine Veloreservierung mehr bekommen haben, "müssen"
wir wohl oder übel am Donnerstag schon los
so ein Pech
aber auch! Die Zeit vom Feierabend um 16 Uhr bis zur Abfahrt unseres
Zuges um 20:44 will natürlich wieder mal nicht verstreichen.
Alles ist gepackt, alles steht bereit: die Velos ein letztes Mal
durchgecheckt, Wohnung geputzt, Stecker aus den Steckdosen, der
Abfall entsorgt und die Nachbarin mit dem Haustürschlüssel
beglückt, nur um dann doch schon wieder viel zu früh zum
Bahnhof zu rollen. Diesmal fährt es sich leicht, mein ganzes
Gepäck ist nämlich nur 14,5 Kg schwer und findet Platz
in meinen beiden altgedienten roten Ortlieb-Packtaschen und einer
kleinen Umhängetasche, die ich noch oben drauf schnalle und
die bei Stadtbesichtigungen praktisch zu tragen sein wird und meine
Mal-Utensilien birgt. Kein Zelt mit dabei, kein Campingplatz diesmal.
Allerdings sind wir vorsichtshalber noch schnell Mitglied im Jugendherbergs-Verband
geworden - man weiss ja nie!
Auf der Fahrt zum Hauptbahnhof
treffen wir noch einen anderen Liegeradfahrer, der eine Streetmachine
fährt, das gleiche Modell wie mein (noch) zweites Liegevelo.
Wir reden zwei oder drei Sätze und tauschen dabei unsere Adressen
aus, denn sein Bruder will eventuell das gleiche Modell kaufen und
ich mich eventuell von meiner Streetmachine trennen. Aber heute
Nacht fahren wir erstmal LiegeWAGEN und nicht LiegeVELO!
Am Bahnhof büssen wir
für unser frühes Kommen und warten noch recht lange auf
die Bereitstellung unseres Zuges, doch im Café mit Blick
auf die Passanten vergeht die Zeit angenehmer als zuhause. Dann
kommt der ersehnte Augenblick, die Aufregung nimmt zu und wir können
die Velos einladen und werden vom Steward zu unserer Deluxe-2-Bett-Kabine
mit Panoramafenstern begleitet und mit einem Glas Wein begrüsst.
Hat man so was schon gesehen? Ist das jetzt die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins oder was? Keiner wird hier Fussball spielen
wollen, aber was die Innenarchitekten aus diesen drei Quadratmetern
Raum herausgeholt haben, lässt uns dann doch staunen: zwei
Kojen, ein Tisch und zwei Sessel, Ablageregale und sogar Dusche
mit WC! Und zu den bereit gestellten Toiletten-Utensilien eigens
zwei Becher mit Trinkwasser zum Zähneputzen, da das fliessende
Wasser im Zug nicht trinkbar ist.
Draussen zieht bald die Zürcher Agglo
vorbei, Cumuluswolken werden von der untergehenden Abendsonne beleuchtet,
es ist Zeit, die Füsse hochzulegen und den ersten Tagebuch-Eintrag
vorzunehmen
gleich am Anfang sollte ich nämlich erwähnen,
dass ich in einer Art Notkauf kurz vor der Reise noch eine Velobrille
erstanden habe, also so ein schnittiges Etwas, mit dem man(n) aussieht
wie ein Ausserirdischer. Da meine "normale" Sonnenbrille
zwischen den beiden Gläsern einen unangenehmen Luftzug erzeugt
und dieser dann wiederum eine Augenreizung, wollte ich mich nach
etwas Winddichtem umsehen. Nun ist es so, dass von allen durchprobierten
Brillen nur Eine wirklich gepasst hat und diese Eine verfügt
über orange-braune Gläser, sodass die Welt eine sonderbare
Farbigkeit bekommt. Margrit spöttelt während der ganzen
Reise herum und zieht mich mit der Brille auf - so nach dem Motto,
ich würde, wenn ich sie aufsetze, immer in meine psychedelische
Welt abtauchen. Dabei sehe ich das Leben einfach gerne durch eine
rosarote Brille - das ist es nämlich! Wenn ich also in diesem
Reisebericht dazu neige, alles schön zu färben, so ist
das auf diese meine neueste Errungenschaft zurückzuführen.
Ansonsten will ich mich natürlich bemühen, alles so wahrheitsgetreu
wie möglich wiederzugeben und nur dort zu schummeln und zu
schwindeln, wo es mir geraten scheint. Versprochen!
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Ungepflegte Bahnsteige wecken in mir immer
ein Gefühl von Melancholie, ich kann nicht sagen warum. Wenn
Unkraut zwischen Beton und Asphalt und rostigem Eisen wuchert, fühle
ich mich verlassen und verloren. Das fällt mir ein, als wir das
soeben servierte Frühstück auf dem kleinen Tisch zwischen
uns hin und her jonglieren und der Zug in einem Bahnhof ein Weilchen
auf einen Gegenzug wartet. Verwitterte Buchstaben auf der gelben Ziegelwand
des Stellwerkes geben uns den Namen der Stadt Emmerich bekannt. Ausschauen
tut es hier, als ob alles schon längst still gelegt wäre.
Es ist etwa acht Uhr am Morgen, wir haben sogar ein wenig geschlafen.
Nachts hat es geregnet: in Karlsruhe, Koblenz und Bonn. Immer dann,
wenn ich wach war, konnte ich bei Aufenthalten in erleuchteten Bahnhofshallen
die Regentropfen an den Fensterscheiben sehen. Seit cirka Duisburg
trocknet es ab und der Himmel reisst auf. Draussen ist es grün,
dazwischen backstein-rot und flach - das ist ja fast eine Art Kulturschock!
Holland. Ich finde es nur recht und billig, dass
wir auch einmal hierher reisen und die Urlaubsbilanz ein klein wenig
ausgleichen, denn normalerweise fallen ja die Niederländer
in grossen Schwärmen in unseren südlichen Gefilden ein.
Jetzt drehen wir den Spiess einmal um und schwärmen nach Holland
aus! Wir zwei bilden zwar nur einen ganz ganz kleinen ausschwärmenden
Schwarm, aber immerhin: auch Kleinvieh macht Mist! Hier kann ich
es ja zugeben, eigentlich befinde ich mich unter anderem auf einer
Art Mission, denn ich möchte bzw. muss Margrit von ihrer Meinung
abbringen, es gäbe NUR in der Schweiz guten Käse, (typisch
schweizer Snobismus!) und sie eines besseren belehren...Gouda
Edamer
Maasdamer
und Leerdamer
wir kommen! Nehmt euch in acht! Ehrlich gesagt:
eine "Käsereise" ist unsere Fahrt durch Holland dann
doch nicht geworden, die kulinarische Komponente kam auf diesem
Abschnitt der Reise eher etwas zu kurz.
Ankunft Amsterdam, Orientierung am Bahnhof, Veloverlad
in den Zug nach Den Haag. Neugierig aus dem Fenster gestarrt. Das
sind also die Niederlande. Eine amphibisch wirkende Welt zieht draussen
vorbei. Überall Wasserläufe auf dem Land und in den Städten.
Gärten, die an Wasser grenzen, Hausboote, Seerosen, Bücken
und: aha! Falträder sind hier bei Pendlern der letzte Schrei!
Ansonsten fährt alle Welt mit Hollandrädern herum (klar
wir
sind ja in Holland), kaum ein Rennrad, nirgends ein Mountainbike
- sogar die Schuljungen flitzen mit hohem Lenker aufrecht durch
die Gegend und trotzen dem Wind. In Den Haag ist es dann endlich
soweit, raus aus dem "Schutz" des Bahnhofes und hinein
in den brausenden Stadtverkehr. Erster Eindruck: sehenswerte Stadt,
umsichtige Autofahrer! Für Fahrradfahrer scheinen die Ampeln
allerdings nicht zu gelten, denn sie ignorieren das Rot. Da muss
man sich erst dran gewöhnen. Auch scheint es hier keine Fahrradhelme
zu geben. Will denn hier niemand die Ängste der Radfahrer schüren
und Profit damit machen? Ist das nur eine Erfindung der Deutschen
und der Schweizer, die hier schon längst eine Marktnische entdeckten
und fleissig absahnen?
Es dauert eine geraume Weile, bis wir uns bis nach
Scheveningen durcharbeiten und das Meer sehen. Mittlerweile hat
eine steife Brise alle Wolken vom Himmel gefegt und wir blicken
auf die blaue See. Scheveningen
Scheveningen
als kleiner
Bub wollte ich unbedingt mal zum Drachenfest hierher. Was war die
Welt damals noch gross und vieles so unerreichbar weit weg! Und
jetzt stehe ich hier an diesem kilometerlangen gelben Strand und
schaue den Windsurfern zu und spüre keinerlei Regung in mir.
Scheveningen hat lediglich eine symbolische Bedeutung als Startpunkt
dieser Reise. Rund tausend Kilometer Wegstrecke liegen vor uns,
wir werden die Niederlande durchqueren und fast ganz Norddeutschland,
zum ersten Mal in die neuen Bundesländer einreisen und dann
das grosse Finale in Berlin feiern. Jetzt feiern wir erstmal unsere
Ankunft mit einer Tomatencrêmesuppe und Apfelschorle und Kaffee
im windgeschützten Inneren eines Strandrestaurants. Margrit
streckt dann die Zehen in die Nordsee, aber ich Ignorant kann mich
nicht so recht dazu entschliessen. Ich hab keine recht Lust auf
Sand in Schuhen oder/und Socken und ausserdem gefällt's mit
hier nicht. Ehrlich gesagt. So interessant Den Haag beim Durchradeln
wirkte, so hässlich erscheint mir nun Scheveningen. Hier wird
man von post-modernen Betonburgen erdrückt (OK, die Fassaden
sind manchmal auch aus hellem Backstein) und die in die See hinaus
gebaute Pier wirkt nicht etwa art-deco-mässig wie in Brighton,
sondern ist in ähnlichem Baustil wie die anderen Gebäude
gehalten. Einzig das Kurhotel wirkt klassisch-mondän, aber
das macht es auch nicht wieder wett. Kein Ort also, an dem ich Urlaub
machen möchte. Nur weg von hier.
Irgendwo durch die Dünen muss es gehen, es
gilt den Einstieg in den Europaradweg zu finden. Ein erster Vorstoss
endet in einer Sackgasse, aber beim zweiten Versuch haben wir Erfolg
und wir sehen die ersten Schilder. Hier in Holland wird der Europaradweg
als "LF4" bezeichnet, das ist die "Midden-Nederlandroute",
und diese wird uns quer durch die Niederlande bis zur deutschen
Grenze führen.
Der Übergang vom letzten Hochhaus-Komplex in
Scheveningen zur Dünenlandschaft ist abrupt: das letzte Hochhaus,
dann ein Parkplatz, ein Schlagbaum, und schon ist man im Naturschutzgebiet.
Ringsum Sand und Heidegras und Gestrüpp. Wir radeln durch einen
hügeligen Dünengürtel auf einem gepflasterten Radweg,
der auf der einen Seite von einer Jogging-Bahn, auf der anderen
Seite von einer Pferdespur begleitet wird. Ziemlich angenehm, das
muss ich zugeben. Und der Wind ist heute ein starker Verbündeter.
Die Dünenlandschaft erinnert allmählich an die Maccia-Landschaft
in der südlichen Toskana und geht allmählich in ein Wäldchen
über. Immer dann, wenn wir eine Asphaltstrasse kreuzen, ist
auf unserem Radweg ein Schild mit der Aufschrift "dus niet
brommen" aufgestellt. Also "brommen" wir auch nicht,
schliesslich sind wir es gewöhnt, uns an Regeln und Verordnungen
zu halten! Das Wäldchen, durch das wir noch immer pedalieren,
beherbergt mittlerweile geräumige Villen mit weiträumigen
Gärten. Hm
hier wohnt also die Den Haager Haute Vollée?
Da muss man durch. Und als wir da durch sind, ist es plötzlich
so, wie man sich Holland vorstellt: flach und grün und grün
und flach. Wiesen und Weiden und Kühe und Schafe. Und ab und
zu ein Kirchturm in der Ferne. Oder der Kubus eines modernen Wohnblocks.
Die Ausschilderung ist vorbildich! Besonders
genial: in der einen Richtung ist die Route als "LF4a"
ausgeschildert, in der anderen als "LF4b". Da kann ja
eigentlich gar nichts mehr schief gehen. Um 16 Uhr geht uns - trotz
Rückenwind und Sonnenschein - die Puste aus und im nächsten
Ort, in Boskoop, wollen wir uns eine Bleibe suchen. Ich kehre den
Anspruchsvollen heraus und gebe kund, dass ich heute gerne asiatisch
essen möchte. Chinesisch, meinetwegen auch Thai oder indisch,
je nachdem. Auf jeden Fall was mit Reis und so. Ein paar Minuten
später fahren wir an einem Gewerbegebiet vorbei. Dort kann
man ein Hotel mit angegliedertem China-Restaurant sehen. Uff
abgebogen
nachgefragt
und
eine Niete gezogen
denn Zimmer gäbe es zwar reichlich,
aber keinen Platz für die Velos. Die müssten dann draussen
vor dem Haus abgestellt werden. Das liegt aber für uns nicht
drin. Schade.
Also weiter. Ein paar Minuten später dann das Örtchen
Boskoop und ein Zimmer im Hotel "De Landbouw". Unten eine
Kneipe, die alles andere als ländlich aussieht, aber das Zimmer
(und auch der Wirt) ist OK. Neben unserem Hotel gibt's eine Zoo-Handlung,
in der man ganze Hasenställe kaufen kann. Sieht man auch nicht
so oft. Zum Abendessen dann der erste Kontakt mit der holländischen
Küche: Paprikaschnitzel und Bratkartoffeln, dazu noch eine
sonderbare Sauce. Ist Paniert, das Schnitzel. Es wird sich noch
herausstellen, dass man hier gerne paniert. Und zwar alles, egal
ob Fisch oder Fleisch. Bei Kartoffeln ist man dann doch etwas vielseitiger:
es gibt Pommes UND Bratkartoffeln! Mit der Zeit reagiere ich panisch
auf Panade. Unser Restaurant besitzt eine Art Wintergarten und durch
diesen beobachten wir die vielen Radfahrer, auch und vor allen Dingen
ältere Menschen. Unglaublich. Wo doch bei uns zuhause jeder
Meter mit dem Auto gefahren wird.
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Nach dem Abendessen sind wir so müde,
dass wir schon um 21 Uhr ein- und bis 7 Uhr morgens durchschlafen.
Und das trotz der lärmenden Klimaanlage im Hinterhof und des
Kneipenbetriebs ein Stockwerk unter uns. Als wir uns nach dem Frühstück
im Supermarkt mit Tagesproviant versorgen, hat die Sonne noch reichlich
Mühe, durch den Hochnebel zu dringen. Wir radeln im Zwielicht
dahin. Sowas ergibt immer recht interessante Stimmungen.
Die ersten Kilometer dieses Tages könnten ein
Lehrgang in amphibischer Gartenkultur sein: all die Häuser
und Anwesen entlang der Kanäle sind von sehr gepflegten, fast
japanisch anmutenden Gärten umgeben. Da die Landschaft hier
nicht unbedingt aufregend ist, will man wohl wenigstens das allernächste
Umfeld seines Wohnsitzes so abwechslungsreich wie möglich gestalten.
Soviele Radfahrer! Alt und jung, alle unterwegs
zum Einkaufen. Mütter oft mit zwei Kindern, vorne und hinten
auf Kindersitze geschnallt, dazu noch das Einkaufsgut in zwei Packtaschen
verteilt. Wer macht so etwas bei uns? Und all die vielen gut ausgebauten
Radwege und die vorbildliche Ausschilderung. Macht schon auch Spass,
hier zu radeln! Um 11 Uhr ist es nicht zu früh für eine
Kaffeepause. Das dazu auserkorene Städtchen heisst Woerden.
Wir parken unsere Räder direkt neben zwei Motorrädern
vor einem Strassencafé - die Biker, die hier ebenfalls Kaffeetrinken,
grinsen dazu. Dass man hier Englisch spricht, erleichtert natürlich
den Aufenthalt in diesem Land, besonders da keiner von uns beiden
der Landessprache mächtig ist. Aber die geschriebene Sprache
lässt sich so halbwegs interpretieren und man versteht recht
gut, was gemeint ist.
Der Radlspass relativiert sich dann aber doch mit
der Zeit durch die eintönig flache Landschaft. Lange fahren
wir an Kanälen entlang, einmal durch einen ewig langen Korridor
oder Hohlweg, der mit Büschen und kleinen Bäumen eine
Art grünen Tunnel bildet. Dann die vielen Alleen. Sobald man
aber durch eine Ortschaft kommt, wird es wieder etwas spannender
und man kann sich an den kleinen Märchenhäuschen mit den
Gärten erfreuen. Ein Schloss mit Grünanlage, nicht weit
von Utrecht, scheint geeignet für eine Pause mit Picknick.
Man kann sich hier an den verschiedenen Grüntönen von
Büschen, Bäumen und dem Rasen erfreuen. Während wir
so sitzen und unsere Sandwiches vertilgen, radelt eine recht grosse
Gruppe Tandemfahrer vorbei: ein Vorkommando, der Haupttross und
dann noch etliche Nachzügler. Nun ja, wem es gefällt.
Margrit und ich sind zu sehr individualisiert für so ein Gefährt.
Bei uns will jeder selber entscheiden können, ob er rechts
oder links an einem Schlagloch vorbei- oder dann doch lieber gleich
hinein fährt. Einsetzender Nieselregen lenkt allerdings von
den Tandemfahrern ab und jetzt gilt die Aufmerksamkeit dem Wetter.
Regenklamotten raus holen oder nicht? Eher schon, denn es regnet
sich ein.
Utrecht. Sollen wir die Stadt besichtigen oder nicht?
Eigentlich reicht uns die gestrige Durchquerung von Den Haag. Lust
auf grosse Besichtigungstouren haben wir jetzt am Anfang der Reise
noch nicht, im Augenblick wollen wir lieber Velofahren und ein Gefühl
für unsere momentane Leistungsfähigkeit bekommen. Also
am besten seitlich an Utrecht vorbei und sich nicht gross in der
Innenstadt verlieren. Stadtverkehr und nasse Strassen und vielleicht
auch noch Trambahngeleise sind sowieso immer so eine Sache für
sich. Dementsprechend geht es nun am Amsterdam-Rijn-Kanal entlang,
über diesen hinüber, durch Utrechter Gewerbegebiete und
bald liegt die Stadt hinter uns. Dann, in Bunnik, stellt sich die
Frage, ob heute noch 25 Kilometer bis zum nächsten Ort mit
Übernachtungsmöglichkeit drin liegen oder ob wir gleich
hier im Hotel Mercure unser Glück versuchen. Blick zum Himmel,
Blick in Margrits Augen. Alles klar, wir bleiben hier.
Anscheinend bekommen Velofahrer hier Rabatt, den
man berechnet uns 25 Prozent weniger als den normalen Zimmerpreis.
Im Foyer wird auf einer Leinwand das Live-8-Festival übertragen.
U2, Duran Duran, Michael Stipe von R.E.M. mit blau geschminktem
Gesicht, was reichlich irritierend wirkt. Madonna kommt in die Jahre.
Steht ihr aber gut, finde ich. Bob Geldof spricht zwischendurch
irgendwas Salbungsvolles und sogar Bill Gates himself kommt für
ein paar Sätze auf die Bühne, man möchte's nicht
glauben. Angesichts des reichsten Mannes des Planeten fällt
mir die ornithologische "Ausbeute" dieses Tages wieder
ein: Austernfischer, Kiebitze, Dolen, Reiher, natürlich Schwäne
und Teichhühner und beim Blick aus dem Restaurantfenster während
des Abendessens noch drei Zaunkönige, kleine lustige Kerle.
Im Gegensatz zum gestrigen eher bescheidenen Abendmahl speisen wir
heute recht gut und sind mit einem leckeren rot funkelnden Burgunder
gut beraten. Heute essen wir eher wieder etwas...äh...international
und innerlich bedanke ich mich bei den fünf Garneelen, die
ihren Körper zur Verfügung gestellt haben, um mich satt
zu machen. Und ich verspreche meinerseits hoch und heilig, meinen
eigenen Körper zur Sättigung anderer bereit zu halten
- und denke dabei an mein Ableben, dass bitte noch etwas auf sich
warten lassen soll. Die Bedienung ist ein recht hübsches Mädel
aus der Gegend, das nicht weiss, ob man mit uns nun besser deutsch
oder englisch spricht. Dass sie mit der Balance der Teller mit unserer
Vorspeise, einer Suppe, Schwierigkeiten hat und das heisse Nass
etwas daneben geht, ist einzig und allein dem flachen Rand des Designer-Geschirrs
zuzuschreiben.
Das mit dem Versprechen bezüglich "meinen
eigenen Körper zur Sättigung anderer bereit zu halten"
wird ganz anders zur (unangenehmen) Realität, als ich es mir
in meiner Fantasie ausgemalt habe bzw. als es gedacht war: heute
Nacht gibt's eine Stechmücken-Katastrophe! Margrits neues Zaubermittel,
Vitamin-B-Tabletten, die einen für Stechmücken unangenehmen
Geruch produzieren sollen, wirkt anscheinend nur in Tanzania und
nicht in unseren Breiten. Und so können wir wegen der Hitze
im Zimmer und den Attacken der Plagegeister erst weit nach Mitternacht
einschlafen. Da werden Erinnerungen an die Radreise entlang der
Weser 1997 wach
irgendwann wird man entweder hysterisch oder
apathisch, und lässt alles über sich ergehen. Jedenfalls
habe ich heute Nacht mehrere Mückenfamilien mit meinem Blut
genährt - ausgleichende Gerechtigkeit.
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Die Stimmakrobatik einer Pop-Diva zum Frühstück.
Wem gefällt eigentlich dieses sinnentleerte und so billig aufgesetzt
emotionelle Zeug? Und das nennt sich dann auch noch Soul! Nach Verzehr
eines Rühreies (und in Erinnerung an die gestrigen King Prawns)
erkläre ich den heutigen Sonntag zum Tag des erhöhten Cholesterinspiegels.
Immerhin lacht die Sonne vom Himmel, das hätten wir nach dem
gestrigen Regen gar nicht erwartet. Aber da wir abends noch die Wettervorhersage
im holländischen Fernsehen verfolgt haben, wissen wir, dass uns
heute trockenes Wetter begleiten wird. Angenehm rollt es heute dahin,
trotz des Schlafdefizites, das sich wohl erst am Nachmittag richtig
bemerkbar machen wird.
Als ich gestern die weitere Routenführung auf
der Landkarte sehe (Reini hat uns mit dem kompletten Kartenmaterial
für die Reise ausgestattet) kann ich den eingezeichneten Zickzack-Kurs
nicht so ganz nachvollziehen. Jetzt, in der Realität, ist es
klar: es geht immer auf kleinsten Wegen dahin, meistens an kerzengeraden
Alleen entlang. Oder durch kleine Wäldchen. Auf jeden Fall
alles so gut wie auto-frei und trotzdem asphaltiert. Schönes
Gleiten! Am späten Vormittag wird uns bewusst, dass wir am
Morgen unseren Trinkwasservorrat nicht aufgefüllt haben. Dabei
ist Sonntag und alle Läden haben geschlossen. Dummer Anfängerfehler!
Kaum zu glauben! Also hat die Beschaffung von Trinkwasser erstmal
oberste Priorität und wir begeben uns auf die Suche nach einem
Café oder Restaurant, einer Imbissbude oder einer Tankstelle.
Zweimal kommen wir an Landschlösschen vorbei
- leider ohne Gaststättenbetrieb. Weil heute die Route aber
partout nicht in Orte hineinführen will, bleibt uns nichts
anderes übrig, als die offizielle Strecke zu verlassen, um
unsere Grundbedürfnisse zu stillen. Wir zweigen also ab und
versuchen im Örtchen Leersum unser Glück. Die Restaurants
an der Durchgangsstrasse haben alle geschlossen und wir wollen schon
frustriert weiterfahren, als uns ein älterer Herr in ein Seitensträsschen
weist, wo es ein nettes Café unter schattigen Laubbäumen
gibt. Es hat geöffnet.
Wieder auf Piste, ändert sich die Landschaft
plötzlich. Es wird leicht hügelig. Sozusagen unerwartet
alpin. Das ist uns dann auch wieder nicht recht. Zuerst haben wir
uns über das langweilig gewordene Flachland beschwert und jetzt,
da wir etwas stärker in die Pedale treten müssen, passt
es uns auch wieder nicht. Kann man es uns überhaupt recht machen?
Natürlich! Bisher läuft es ja wunderbar! Overberg, das
nächste Städtchen. Nomen est Omen, denn um dorthin zu
kommen, muss man wirklich über eine Art Berg. Vorne ist sogar
das kleinste Kettenblatt nötig und hinten das zweit- oder drittgrösste
Ritzel. Damit hat jetzt noch keiner von uns gerechnet
Später, als wir aus einem zusammenhängendem
Waldgebiet auf eine Lichtung kommen, an der sich mehrere kleine
Strassen, Waldwege und eine grosse Bundesstrasse treffen, genehmigen
wir uns an einem Kiosk ein Eis. Zwei junge Reiterinnen, Mädels
so um die 13 oder 14 Jahre herum, kaufen sich, hoch zu Ross, ebenfalls
eines. Wir schauen fasziniert zu, mit welcher Routine sie ihre grossen
Pferde kontrollieren, vom Pferderücken aus das Eis ordern und
zahlen, etwas abseits essen und dann wieder zum Kiosk reiten und
denn Abfall entsorgen. Ein Familie sucht dagegen im hohen Grass
vor dem Kiosk irgendetwas Verlorenes, einen Schlüssel oder
so. Sie leeren sogar den Abfalleimer aus
igitt! Dann, nur ein
paar Minuten später, ein unverhoffter Szenenwechsel: als wir
aus dem Wald herausfahren, befinden wir uns auf einer weiten Heidefläche,
ein Teil des Nationalparks De Veluwezoom. Dieser Abschnitt hier
dient wohl als Naherholungsgebiet. Unmengen von Spaziergängern
und Radfahrern sind hier unterwegs.
Wir wollen heute bis etwa Oosterbeek kommen, eine
Ortschaft kurz vor Arnheim. Dort, in Oosterbeek, ist in unserem
Führer ein Hotel verzeichnet. Die letzten Kilometer bis dorthin
haben es noch in sich, denn es geht ein paar Mal harsch bergauf.
Zum guten Glück radeln wir dabei im Wald dahin, denn es ist
im Laufe des Tages ziemlich heiss geworden. Die Ortsstruktur von
Oosterbeek erschliesst sich uns (beziehungsweise mir) dummerweise
nicht sofort, zumal wir kurz vorher sowieso die offizielle Route
verloren haben und aus anderer Richtung kommend in die Ortschaft
hineinfahren. Einen Ortskern finden wir nicht, auch keine Hinweisschilder
auf Hotels oder andere Übernachtungsbetriebe. Erst die Befragung
eines Einwohners bringt Licht ins Dunkel. Aha, man muss also wieder
zurückfahren, bergauf, bergab, bergauf, bergab
nach einer
weiteren Irrfahrt - inzwischen radeln wir schon durch Doorwerth
- findet sich unsere angepeilte Bleibe immer noch nicht, dafür
landen wir unversehens vor dem Golden Tulip Parkhotel. Der Tarif
für die Halbpension ist so akzeptabel, dass wir sofort zuschlagen
und uns freuen, durch Zufall auf diese attraktive Hotelanlage gestossen
zu sein. Es gibt einen Swimmingpool (der kommt heute natürlich
wie gerufen!), einen Teich, grosse Rasenflächen, Terassen-Restaurant
leben
wie Gott in Holland?
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Soll man sich generell vom Wetterbericht ins
Bockshorn jagen lassen? Oder soll man nichts drauf geben und ihn ignorieren?
Es ist von einer Gewitterfront die Rede. Von Hagelsturm und Orkanböen.
Das alles soll im Laufe des Vormittages die Niederlande überqueren
und anschliessend weiter in Deutschland sein Unwesen treiben. Man
muss wissen, dass uns Regenwetter mittlerweile so gut wie gar nichts
mehr ausmacht, aber unterwegs auf freiem Felde von einem Hagelsturm
überrascht zu werden, das ist nicht unser Ding, vor so was haben
wir beide richtig Angst. Beim Frühstück deutet nichts auf
das Prophezeite hin. Nachts hat es zwar geregnet, doch am Morgen scheint
die Sonne von einem nur leicht bedeckten Himmel und es sieht eigentlich
prima aus. Was nun? Der Kopf will nicht so recht glauben, dass in
ein paar Stunden eine Gewitterfront über uns hinweg ziehen soll,
doch der Bauch spricht eine deutlich andere Sprache. Eigentlich spricht
sowieso alles für einen ersten Pausentag: die komfortable Unterkunft,
die Aussicht auf einen Ruhetag, ausserdem fängt die Seele grad
zu baumeln an und warum sollen wir diesen Prozess jetzt so jäh
unterbrechen? Also abgemacht! Letztendlich hat auch die Hotelleitung
nichts dagegen, dass wir hier um einen Tag verlängern
Um die Mittagszeit zieht sie dann heran, die Gewitterfront.
Doch während sie an anderen Orten reichlich Schaden anrichtet,
kommt bei uns lediglich ein Platzregen herunter. So oder so: wir
haben entdeckt, dass das Hotel auch noch über ein Hallenbad
verfügt und deswegen ist uns die Witterung reichlich egal.
Planschen macht genausoviel Spass wie Radfahren, mir zumindestens.
Es macht halt anders Spass.
Und abends ist der Spuk sowieso wieder vorbei - wir sitzen noch
lange auf der Terasse, geniessen die Abendsonne, planen den nächsten
Tag.
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Ob wir heute noch
über die Grenze kommen? Wenn ja, dann ja, wenn nicht, dann eben
nicht. Spielt keine so grosse Rolle, wir sind grosszügig mit
unserer Zeit. Es ist kühl geworden. Blauer Himmel, die Sonne
saugt das gestern niedergegangene Wasser auf. Bald ist es wolkig und
windig. Wir finden wieder zurück zur ausgeschilderten Route,
wobei Margrit heute schon früh am Morgen den Orden für guten
Orientierungssinn verliehen bekommt, als sie uns bei nicht eindeutigen
Abzweigungen auf den rechten Pfad führt. Chapeau! Ich jedenfalls
hab gerade irgendwie Tomaten auf den Augen. Vorgestern Nachmittag
wohl auch schon, denn jetzt, auf dem richtigen Weg, kommen wir durch
den Stadtkern von Oosterbeek hindurch, sehen mehrere Hotels ausgeschildert
(darunter auch das ursprünglich geplante) und alles ist plötzlich
ganz easy.
Wir umfahren Arnheim, indem wir wieder in den Nationalpark
de Veluwezoom eintauchen. Heideland, Eichen- und Buchenwälder,
Einsamkeit und Stille. Wir geniessen diese fast 30 Kilometer Ruhe.
Genau so lange, bis uns im letzten Drittel dieser Passage kurz hintereinander
zwei sehr zwielichtige Individuen begegnen. Auf einmal wird uns
etwas ungemütlich zu Mute und unwillkürlich legen wir
einen Zahn zu. Erst im Ausflugslokal Carolinahoeve halten wir an
und pausieren für ein Weilchen.
Noch ein wenig auf und ab und dann sind wir endlich
raus aus dem Wald und zurück in der Zivilisation. Bei Dieren
trägt uns eine Fähre über die Ijssel. Auf dem Schiff
steht geschrieben: Steeds voorwaarts. Am anderen Ufer empfängt
uns wieder eine flache Landschaft. Aber anders flach als es vorgestern
flach war. Irgendwie bodenständiger. Kann sich jemand was darunter
vorstellen? Nicht? Ich kann es nicht anders beschreiben...es ist
einfach flach wie vorgestern auch, nur eben anders flach! Der Wind
schiebt uns 10 Kilometer bis in den Ort Steenderen, wo neben der
Ortskirche ein Restaurant auf uns wartet. Und während wir uns
Kalorien zuführen, beobachten wir einen Altherren-Club, der
von irgendwo bis hierher geradelt ist, hier was gegessen hat und
sich jetzt wieder auf den Weg macht. Es dauert schon seine Zeit,
bis alle wieder parat sind, denn es sind a) wirklich sehr sehr alte
Herren mit dabei und b) scheinen einige hier in der Gastwirtschaft
auch etwas getankt zu haben. Insgesamt ist das eine recht wackelige
Gesellschaft und erinnert mich an einen Haufen aufgescheuchte Hühner,
die man erst wieder zusammentreiben muss. Irgendwann kriegen sie
es dann aber geregelt, wobei jedoch der Älteste mit dem Auto
abgeholt wird. War wohl doch ein bisserl viel für sein Alter:
erst die Velotour und dann der Schnaps...
Wir schwingen uns selber wieder auf unsere Drahtesel.
Die Highlights des Nachmittags sind auf nahezu ideal geführter
Route die vielen Pferde und vor allen Dingen jungen Fohlen auf den
Weiden. Manche sind wohl erst ein paar Tage alt. Und neugierig sind
sie alle! Ausserdem werden die Pferde immer kleiner, je weiter wir
nach Osten vorankommen. Kann man das so sagen? Wohl nicht. Aber
wir sind grad in der Laune, alle möglichen Regeln und Gesetzmässigkeiten
aufzustellen. Holland ist das Land des panierten Fleisches und der
nach Osten zu kleiner werdenden Pferde!
Als der Nachmittag voranschreitet und unsere Energie
sich mehr und mehr verabschiedet, zeigt ein Blick auf die Karte,
dass diese Tagesetappe am besten in einem Städtchen namens
Borculo ein Ende finden würde. "Borculo" klingt fast
wie eine italienische Rotwein-Sorte und das ist ja nicht die schlechteste
Referenz. An einem Naherholungsgebiet findet sich dann auch noch
ein Hotel für uns. Mit einem schönen Gartensitzplatz.
Nach dem Einchecken darf ich auch heute wieder planschen. Jedoch
nicht in einem Hallenbad, sondern in der Sitz-Badewanne. Dafür
aber mit einem Glas Bier in der Hand. Auch OK. Heute gesehen: einen
Kormoran und eine grosse Hornisse, einen Sperber mit einer toten
Amsel in den Fängen. Guten Appetit! Ausserdem war heute ein
Tag der Düfte - Stinkmorchel in den Wäldern, Kamille an
den Feldrainen und der Duft von frisch gemähtem Grass, der
mich so stark an meine Kindheit erinnert und mir manchmal Tränen
in die Augen treibt. Uff...Bier macht anscheinend sentimental...
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Irgendwie hab ich wohl sonderbar geträumt heute
Nacht und bin am Morgen in recht düsterer Stimmung. Man könnte
sagen ich bin mit dem falschen Fuss aufgestanden. Innenwelt = Aussenwelt:
ein Blick aus dem Fenster lässt nicht Gutes erahnen, es regnet
nämlich. Glotze an und vor dem Frühstück nach einem
Wetterbericht gesucht und schliesslich beim WDR fündig geworden.
Also Schauerwetter und für den Juli enttäuschend kühl.
Nun, die Temparaturen sind OK, auf den Niederschlag können
wir allerdings gerne verzichten. Nach dem Frühstück bleibt
es jedoch erstmal trocken, lediglich der Wind hat etwas gedreht
und bläst bzw. stürmt aus südlichen Richtungen, mit
unverminderter Kraft wie seit Beginn der Reise. Heute Nacht hat
eine Katze auf dem Sitz der Speedmachine genächtigt, das heitert
mich wieder auf.
Allmählich heisst es Abschied nehmen von den Niederlanden,
wir nähern uns der deutschen Grenze. Zeit für ein kleines
Resumee? Zu richtigen Begeisterungsrufen hat uns das Land nicht
hingerissen. Das mag an der auf Dauer dann doch recht eintönigen
Landschaft liegen und an den ebenfalls nicht gerade aufregenden
Speisekarten der von uns besuchten Restaurants: alles ist so kartoffel-intensiv,
Reis findet man so gut wie gar nicht, Pasta nur zur Not. Von der
Manie, jegliches Fleisch zu panieren, will ich nicht schon wieder
anfangen. Dass Toastbrot und Ei fester Bestandteil des Frühstücks
sind, damit konnten wir prima leben. Dagegen gefiel uns aber wieder
nicht, dass es keine Salatsaucen mit Olivenöl/Balsamico gab,
sondern diese Mayonaise- und Joghurtsaucen, mit denen man mich bis
hinter den Ural jagen kann. Aber die Leute sind sehr freundlich,
es gibt ein gut ausgebautes und dichtes Radwegenetz und man sieht
nicht soviel Müll in der Landschaft herumliegen.
Letzteres wird uns bewusst, als wir später auf der deutschen
Seite den Aussichtsturm zum Naturschutzgebiet Ellewicker Feld besteigen
und dort wieder allerlei Abfall in Form von Dosen, Bechern und Verpackungen
sehen. Woran liegt's? Sind die Holländer sauberer oder geben
sie mehr Geld für die Abfallbeseitigung aus?
Ziemlich bald fahren wir über die Grenze, gönnen uns bei
Zwillbrock einen Blick in die dortige Barockkirche und radeln bei
verschieden intensiven Regengüssen über's platte Land.
In Vreden gibt's einerseits sonderbar guckende Jugendliche, als
wir auf der Suche nach einem Restaurant durch die Fussgängerzone
rollen, andererseits aber grade dort auch ein italienisches Restaurant.
Ganz wohl ist mir nicht, die beiden Räder samt Gepäck
vor der Tür und ausser Sicht zu parken, aber heute ist kein
Wetter für Strassencafés. Hm...Spaghetti Bolognese,
das tut jetzt richtig gut! Leider hat die Stiftskirche in Vreden
geschlossen. Dann halt wieder hinaus in die Felder und Fluren. Es
hat aufgehört zu regnen und wird etwas heller und wärmer
und später kommt sogar noch die Sonne hervor. Sieh an!
Seit der deutschen Grenze folgen wir dem Europaradweg R1. Als gedachte
Route soll er Calais mit St. Petersburg verbinden und im Prinzip
einer ehemaligen Handelsstrasse folgen. Von hier bis Berlin ist
er ausgeschildert als "R1". Wir benutzen Reinis BIKELINE-Reiseführer,
denn hier steht man ohne Karte schon mal im Wald - und zwar im wahrsten
Sinne des Wortes! Die Beschilderung ist nicht so penibel ausgeführt
wie auf der holländischen Seite. Es ist auch nicht ersichtlich,
warum die Route dermassen mäandert und oft wirklich mit der
Kirche ums Dorf geführt wird, wo es doch kürzere und ebenfalls
verkehrsarme Alternativen gäbe. So erlauben wir uns manch dezente
(bzw. dick aufgetragene) Abkürzung, denn vorwärts kommen
wollen wir schliesslich auch noch.
Nachmittags um 4 Uhr kommt heute für Margrit ein Totpunkt,
es reicht eigentlich für heute, auch für mich. Bis zum
nächsten Ort sollten wir es aber noch schaffen, denn erst dort
gibt es eine Unterkunft für uns. Wir fahren mittlerweile unter
einem sonderbaren Regengürtel dahin. Rechts von uns scheint
die Sonne, aber bis zu uns reicht das Wolkenloch leider nicht. So
kommen wir pitschnass an und finden das einzige Hotel im Ort verschlossen.
Erst in einer Stunde soll es öffnen. Was tun? Hier rumstehen
und frieren? Besser: Banane essen und wieder in Schwung kommen und
dann im nächsten Städtchen anrufen, die Zimmersituation
checken und gleich reservieren, denn die paar Kilometer liegen schliesslich
auch noch drin. Jetzt hilft uns auch noch der Wind und vertreibt
die Wolken, wir radeln bei schönem Nachmittagslicht an Schloss
Darfeld vorbei und radeln durch den Schlosspark, denn eine Schlossbesichtigung
geht leider nicht. Dann sind wir auch schon im Örtchen und
bekommen die bisher preisgünstigste Übernachtungsmöglichkeit
angeboten. Dabei ist das Zimmer sogar noch recht schön, gross
und komfortabel.
Heute war ein recht vielschichtiger Tag und meine Morgenlaune hat
sich im Laufe des Tages auch wieder gebessert. Auch die Speisekarte
ist hier vielseitiger und ich verfalle abends noch in einen Blutrausch,
als ich mir ein nur leicht angebratenes Rumpsteak gönne. Sowas
passiert mir auf Radreisen regelmässig - zuhause so gut wie
nie.
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Obwohl der Wetterbericht kühles Schauerwetter vorhersagt ist
es trocken an diesem Donnerstagmorgen. Draussen ist es mild und
ruhig und die Sonne hat wieder damit zu tun, den gestern nieder
gegangenen Regen zu verdunsten. Wir sind nun schon fast eine Woche
unterwegs und die Tage reihen sich aneinander wie Perlen auf einer
Kette. Man muss jetzt schon zweimal nachdenken, wenn man sich die
Ereignisse der allerersten Reisemomente noch vergegenwärtigen
will - wie zB das erste Hotelzimmer aussah, etc.
Da der offizielle Radweg heute im Zickzackkurs durch die Gegend
geführt wird, ohne an besonders hervorzuhebenden Stätten
vorbeizuführen, kürzer wir wieder recht rigoros ab und
fahren auf kleinen Landsträsschen mit wenig Verkehr durch's
Münsterland. Eigentlich sind uns diese kleinen Strassen inzwischen
sowieso viel lieber als all die unbefestigten Feld- und Waldwege.
So rollen wir recht flott auf Münster zu. Irgendwann lasse
ich mich allerdings dann doch wieder dazu verleiten, von der schön
befahrbaren Landstrasse auf den offiziellen Radweg abzubiegen und
handle uns damit prompt 6 - 8 Km Umweg ein, weil ich das Schild
wohl wieder mal falsch interpretiere. Jedenfalls kann ich auf meiner
Karte nicht nachvollziehen, wo wir uns im Augenblick befinden. Wahrscheinlich
haben wir den Gott des Europaradweges durch unser eigenmächtiges
Abweichen vom Pfad der Tugend erzürnt und er fordert nun Tribut
- ein Umweg-Opfer! Aber das ist immer noch besser als eine Panne!
Jedenfalls verpassen wird dadurch 2 Schlösser bzw. Herrensitze,
und zwar Burg Hülshoff, den Geburtsort von Anette von Droste-Hülshoff
und ein anderes Bauwerk, das ebenfalls in Bezug zu erwähnter
Dame besteht.
Naja, dumm gelaufen! Aber Münster kommt ja stetig näher
bzw. wir der Stadt und bald schon holpern wir auf Kopfsteinplaster
in die Altstadt und schnuppern Stadtluft. Im italienischen Restaurant
schmeckt es zwar nur mittelmässig, dafür wird im Restaurant
direkt an der Eingangstür der Nudelteig frisch gemacht und
sowas sieht man auch nicht alle Tage.
In der Liebfrauenkirche ist ein filigranes Kunstwerk aus vielen
kleinen Fingerhüten zu bewundern, die an dünnen Nylonfäden
von der Decke herunterhängen - ein künstlicher Sternenhimmel,
erleuchtet vom Sonnenlicht, das durch die bunten Kirchenfenster
dringt und in allen Farbtönen des Spektrums schillernd. Im
Paulus Dom dagegen ein völlig anderes Bild: dort schiebt ein
Zugehöriger der dortigen Glaubensgemeinschaft einen Staubsauger
über den Domboden. Auch nicht gerade das, was man als Kirchenbesucher
erwartet.
Wider Erwarten finden wir sofort richtig aus Münster hinaus
(ist der Radweggott besänftigt und uns wieder wohlgesonnen?),
versorgen uns an einem Supermarkt wieder mit dem Nötigsten,
wobei ein noch jüngerer Mann das Gespräch sucht und mich
auf die Speedmachine anspricht. Er hätte wohl damals das "Marco
Polo" der Firma Radius mitentwickelt (Radius ist ein Firma,
die Liegeräder herstellt), muss allerdings erst zweimal überlegen,
bis er auf den Namen kommt. Selber fährt er allerdings ein
Mountainbike. Naja, mir soll's recht sein. Bald sind wir ganz draussen
aus der Stadt und haben nun eine abwechslungsreiche Landschaft um
uns. Es geht über einen Fluss, der wohl das Paddel-Revier der
Münsteraner sein mag, jedenfalls gibt's hier die dazu gehörige
Infrastruktur samt Campingplatz und Kanu-Verleih. Dann Maisfelder,
Getreidefelder in verschiedenen Reifestadien und die Landschaft
leicht wellig mit guter Wegebeschaffenheit.
Kaum zu glauben, aber es ist bisher trocken geblieben. In der Ferne
sieht man nun allerdings Schauer niedergehen und wir können
uns ausrechnen, dass auch wir noch "dran glauben" müssen.
Heute bin ich derjenige, den mitten am Nachmittag ein Totpunkt ereilt.
Als mit Sicherheit anzunehmen ist, dass die näherkommende Regenwolke
auch uns mit ihrem Inhalt beglücken wird, kommt uns eine Bäckerei
mit Stehcafé gerade recht. Prima! Gutes Timing! Und wie es
gleich aus allen Kübeln giesst! Bei Kaffee und einem Stück
Käsesahnetorte kehren dann auch die Lebensgeister wieder zurück.
Wie weit denn heute noch? Bis Warendorf? Das liegt nahe und noch
drin. Wir schmökern im Reiseführer und suchen uns ein
Hotel aus und reservieren telefonisch schon mal ein Zimmer. Als
es zu regnen aufhört sind wir wieder unterwegs. Nach ein paar
Metern holt uns aber der Regen wieder ein (Wettergott wankelmütig?)
und auf den letzten Kilometern bis Warendorf werden wir nass und
zwar richtig! Die Anzahl der Sterne unserer Unterkunft beträgt
vier und wieder bekommen wir Rabatt bzw. Ermässigung, weil
wir mit dem Rad unterwegs sind. Das Zimmer ist fast eine Suite,
hat aber leider einen grossen und alles entscheidenden Nachteil,
den wir erst in der Nacht bemerken: es riecht nach menschlichen
Exkrementen, so als ob jemand in die Dachrinne gesch****en hätte
(wir schlafen direkt neben der Regenrinne). Dafür dürfen
wir beim Einchecken die nassen und verdreckten Räder direkt
in den Festsaal fahren. Das immerhin.
Abends schlendern wir noch durch das nette Städtchen. Zum ersten
Mal seit einer Woche sind die Häuser wieder verputzt und man
sieht nicht nur Backstein-Fassaden. Auf dem Marktplatz wird auf
abgesperrtem Terrain Sand aufgeschüttet. Aha, da beginnt am
Samstag der Landwirtschaftstag, wahrscheinlich werden in der sandigen
Arena die Preisochsen gekürt, denke ich. Margrit - ganz Eidgenossin
- fragt mich dagegen in aller Unschuld, ob die Münsterländer
wohl auch einen Sport wie das in der Schweiz ausgeübte Schwingen
kennen. Gott bewahre!
Schliesslich landen wir in einer Pizzeria und sitzen am Fenster.
Draussen kontrolliert ein Polizist einen farbigen Jugendlichen -
vermutlich ein islamistischer Extremist, sieht man doch schon an
der Hautfarbe! (ernster Hintergrund: heute gab es in London vier
Bombenattentate!)
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Heute weichen wir ganz vom Europaradweg ab und machen einen weiten
Schlenker nach Norden, denn wir wollen unsere Freundin Christine
besuchen, die in Löhne/Bad Oeynhausen wohnt. Zuhause hab ich
mir eine Landkarte/Routenbeschreibung ausgedruckt (www.radweit.de
- SEHR EMPFEHLENSWERT!) und heute fahren wir nach der vorgeschlagenen
Route. Heute regnet es ausnahmsweise am Morgen schon. Als wir aus
Warendorf hinaus, über ein Flüsschen und in die nächste
Ortschaft Sassenberg radeln, sind wir schon in voller Montur - also
Regenkleidung - unterwegs. Erneut radeln wir entlang eines Wolkenbandes,
rechts von uns ist es sehr hell und dort scheint sogar die Sonne
durchzukommen. Das macht Hoffnung.
Ganz allmählich trocknet es dann auch bei uns ab und wir nähern
uns dem Teutoburger Wald. Da war doch was mit den Römern und
den Germanen? Die Varusschlacht? Arminius besiegte die Römer
im Sumpf? Dort müssen wir rüber. Aber nicht sofort. Denn
am Fusse des Teutoburger Waldes liegt die Stadt Halle, die uns zuerst
recht unangenehm mit einer grossen Durchgangsstrasse mit Schwer(st)verkehr
begrüsst. Aber wir müssen unseren Kohlehydratvorrat auffüllen,
es wird ein Restaurant oder ein Lebensmittelladen benötigt.
Und siehe da: es gibt hier also auch eine Art Fussgängerzone.
Es ist Markttag und Mittagszeit und wir schieben die Räder
mühseelig durch die Passanten. Das lohnt sich, denn wir finden
ein türkisches Restaurant mit einem sehr charmanten Wirt, der
uns zu Couscous mit einem wunderbaren Lamm-Eintopf rät. Der
Kaffee hinterher geht auf Kosten des Hauses. Schmecken tut's vorzüglich,
mal sehen, ob der Energie-Zugewinn ausreichend ist...
Noch ein Gedanke zur Fahrt am Vormittag: es ist egal, wie klein
die Strasse, wie schmal der Weg ist - immer dann wenn man ein Geschäft
verrichten will/muss, kommen entweder ein Autos, Passanten oder
andere Radfahrer des Weges. Erstaunlich auf welch kleinen Wegen
man sogar grosse LKWs antrifft.
Jetzt also über den Berg. Es sah von der Ferne schlimmer aus,
als es in Wirklichkeit ist. Vier Kilometer weiter und wir sind schon
in Werther, ein Ort, der auf der anderen Seite des "Gebirgszuges"
liegt. Dazwischen liegt eine mittelmässige Steigung mit einem
Panoramablick zurück und einer Begegnung mit einem Reh, das
ganz unbedarft aus dem Wald kommt und langsam in ein Maisfeld hinüber
wechselt.
Kaffeepause in einem Altstadtcafé in einem der nächsten
Orte, SMS-Rücksprache mit Christine samt Treffpunkt-Bestimmung
und nach einigem Hin und Her sind wir im Tal von Werre und Else,
wo uns Christine mit ihrem Flevo-Trike erwartet und die letzten
Kilometer zu sich nach Hause geleitet.
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Heute ist velo-frei! Wir frühstücken ausgiebig,
haben uns gegenseitig viel zu erzählen, spazieren durch den Bad
Oeynhausener Kurpark und landen in der Bali-Therme. Ich plansche wieder
mal, diesmal in den Fluten des Sol-Bades, bis meine Finger und Zehen
ganz verschrumpelt sind. Ausserdem erstehen wir an diesem Tag noch
2 Schirmmützen für uns beide und ein hellblaues Radtrikot
für mich. Wenn wir das gelbe schon Herrn Armstrong überlassen
und auch keine Kandidaten für das grüne oder das Pünktchen-Trikot
der Bergwertung sind, so wollen wir uns an lichtem Hellblau ergötzen...
(ausserdem war es spott-billig!) |
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So ein Ruhetag wie der gestrige tut einfach gut!
Wir sind ja nicht bei der Tour de France dabei (verfolgen aber seit
gestern das Geschehen) und wenn man unsere Tagesleistungen betrachtet,
so sind wir schon nicht gerade Hochleistungssportler. Trotzdem verlieren
wir nach 3 oder 4 Velo-Tagen schon mal die Lust am Radeln und wenn
wir unsere Batterien nicht immer wieder durch Pausentage aufladen,
machen wir nur mehr Kilometer und das entspricht auch nicht dem, was
wir uns unter einem gelungenen Urlaub vorstellen. Überhaupt verwischen
auf dieser Reise die Konturen etwas und verschiedene Aspekte kommen
unter einem Hut: der sportliche, der kulturelle und auch der Wellness-Aspekt
werden auf diesem Trip gleichermassen beachtet werden.
Aber heute sind wir wieder unterwegs. Das Wesertal ist unsere Fahrbahn,
wir werden heute und morgen flussaufwärts fahren, um wieder an
die Schnittstelle mit dem R1 zu gelangen. Dass ich diesen Fluss und
einen seiner Quellflüsse, die Fulda, sehr mag, hab ich wohl bei
früheren Reiseberichten schon ein paar Mal erwähnt. Ich
freu mich wirklich, jetzt wieder einen Teil davon befahren zu können.
Wir haben Kaiserwetter! Sonne, strahlend blauer Himmel, jetzt am Morgen
noch moderate Temperaturen. Christine wird uns einen Weg von Bad Oeynhausen
zum Weserradweg zeigen und uns ein Weilchen begleiten. Und als gutes
Omen fliegen zwei Aras über uns hinweg. Weil wir alle so plötzlich
stoppen um uns davon zu überzeugen, ob wir auch richtig gesehen
haben, verursachen wir fast einen Auffahrunfall. Doch, es stimmt:
es sind zwei grosse bunte Papageien. Leider zu schnell, um die Kamera
hervorzuholen und sie zu pixeln.
Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, dass es hier an der Weser
solche Steigungen gab, jedenfalls geht's bei Vlotho ein paar Mal recht
streng aufwärts. Dummerweise fährt sich Christine auf einem
Waldweg einen Platten und kehrt nach erfolgter Reparatur lieber mal
wieder um. So sind wir also wieder alleine unterwegs, befinden uns
längst im weiten und flachen Talboden. Erinnerungen an unsere
erste "grosse" gemeinsame Radtour 1997 werden wach, als
wir - getrieben von meiner damaligen Unruhe - dieses Flusstal hier
nach Norden zu hindurchgebrettert sind. Heute würden wird das
anders machen. Und wir machen es inzwischen auch ganz anders.
Der Weserradweg ist neben dem Donauradweg einer der beliebtesten deutschen
Fernradwege. Zurecht, denn neben der sehenswerten Flusslandschaft
gibt es auch viele interessante Städte zu sehen. So wundert es
uns natürlich nicht, dass hier sehr viele Reiseradler unterwegs
sind, meist schon etwas ältere Semester, oft im Pulk. Aber eben
auch viele Paare. Das macht irgendwie Spass. Gleichgesinnte zu sehen,
meine ich. Auf dem ersten Teil der Reise waren Radler mit Gepäck
eher selten. In Holland gab's mal ein paar wenige, im bisher durchradelten
deutschen Abschnitt überhaupt niemanden. Da wird man dann in
den Orten natürlich immer ein bisserl neugierig begafft. Aber
hier ist das anders, da gehört der Radreisende zum täglichen
Erscheinungsbild.
Die Sonne heizt inzwischen die Getreidefelder auf, die Luft flirrt,
zwei Segelflugzeuge suchen die Gegend nach aufsteigenden Luftmassen
ab. Links grüsst das Wesergebirge herüber, rechts der leider
begradigte und in ein enges Korsett gezwängte Fluss. Die Kamille
an den Feldrainen duftet intensiv, die Erdbeeren auf dem Feld zum
Selberpflücken, an dem wir grad Halt machen, um etwas zu trinken,
ebenfalls. Blaue Kornblumen und lila Disteln und roter Klatschmohn.
Zwei Pferde mögen sich sehr gern, denn sie schmiegen sich ganz
eng aneinander und liebkosen sich gegenseitig. Sommer pur!
Hameln, die Stadt des Rattenfängers. Schon auf der '97er Reise
war sie Etappenziel und auch heute bietet sie sich dafür an.
Wir erinnern uns noch an das Hotel
Christinenhof und wollen auch heute wieder dort übernachten.
Inzwischen hat man dort in den Katakomben des historischen Gebäudes
einen kleinen Swimmingpool installiert. Der ist zwar nur ein paar
Meter gross, aber immerhin - eine Abkühlung ist nach diesem heissen
Tag ein willkommenes Zubrot. Wir sind allerdings nicht allein: vier
splitternackte Kids aus Japan, so um die 6 - 8 Jahre alt, tummeln
sich schon in den Fluten, völlig verunsichert, ob sie das nun
dürfen und wie sie sich verhalten sollen und schliesslich obsiegt
die Freude am Planschen doch. Die Kinder gehören zu einer Reisegruppe,
die wir am nächsten Morgen beim Frühstück wiedersehen.
Dort sitzen die Jungs dann allerdings frisch gescheitelt am Tisch
und von der gestrigen Lebendigkeit und Lebensfreude ist nichts zu
spüren. Naja, wir sind morgens ja auch nicht die Lebendigsten.
Lance Armstrong zur Zeit im gelben Trikot - Jan Ullrich hat's schwer.
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Der Geruch von trockenem Heu in der Luft, Sauerampfer
in den Wiesen, ein Kernkraftwerk dominiert das Landschaftsbild.
Aber auch: Sommersonne, blauer Himmel und Rückenwind. Und die
Landschaft des mittleren Wesertales, die sich von Flussschleife
zu Flussschleife ändert. Es ist ein Wechselspiel aus bewaldeten
Höhenrücken, Getreidefeldern und Alleen, nach jedem Kilometer
wieder anders verteilt und neu durchkomponiert. Irgendwann möchte
ich die komplette Strecke, wieder von Fulda aus beginnend, nochmals
befahren. An vieles mag ich mich noch erinnern, aber es hat sich
in all den Jahren auch einiges verändert. Es gibt mehr asphaltierte
Passagen und sogar eine Brücke wurde an einer Stelle gebaut,
wo mein betagter Reiseführer von 1993 noch eine Personenfähre
eingezeichnet hat. Heute radeln wir noch bis etwa Holzminden bzw.
Bevern in diesem Flusstal, bevor wir uns dann nach Osten wenden
werden.
Bei Bodenwerder kommt Hunger auf und der Biergarten auf der anderen
Flussseite scheint jetzt um 10:30 schon geöffnet zu haben.
Dummerweise sagt uns die Bedienung erst nachdem wir schon eine Apfelschorle
bestellt haben, dass es erst in einer Stunde zu essen geben wird,
weil der Koch dann erst kommt...hm...dumm gelaufen. Also immerhin
etwas trinken, der Hunger ist ja noch nicht so akut, als dass er
sich nicht noch ein kleines Weilchen aushalten liesse. Neben uns
sitzt, oder eigentlich: liegt, ein Herr in seinem oder auf seinem
Stuhl und schnarcht lautstark vor sich hin, zwei halbvolle Bierhumpen
vor sich auf dem Tisch. Kein Wunder eigentlich, denn aus dem Radio
tönt Nena mit einem furchtbar kindisch/kitschigem Singsang.
Wird diese Frau denn nie erwachsen? In Bodenwerder gibt's dann noch
Bargeld aus der Maschine und endlich eine neue Speicherkarte für
meine kleine Digitalkamera, denn meine mitgebrachte ist schon fast
voll. Bisher hab ich schon erfolglos in drei Fotoläden nachgefragt
und diesmal muss ich einfach zuschlagen, sonst kann ich bald nicht
mehr fotografieren. Dummerweise gibt's hier nur ein einziges Exemplar
und das ist 1 Gigabyte gross - ich kann also jetzt über 1200
Bildchen verknipsen. Macht euch auf was gefasst!
Also, wie war das jetzt? Genau: wir wollen das Wesertal noch bis
etwa Bevern/Holzminden hochradeln, dann wieder auf dem Europaradweg
R1 nach Osten abbiegen. Geplant ist, bis zum Städtchen Einbeck
zu fahren. Dort haben wir eine Verabredung mit Tine, die in Göttingen
lebt und auf ein kurzes Treffen vorbeikommen möchte. Aber Bevern
will nicht kommen. Holzminden ist noch weit. Anscheinend habe ich
mich irgendwie verrechnet (Mathematik gehört auch nicht zu
meinen Stärken), denn es sind in Wirklichkeit 50 Kilometer
von Hameln bis Bevern - ich weiss nicht, warum ich nur 30 eingeplant
hatte? Immerhin gelingt uns nach Bodenwerder bald eine Pause an
einem Schnellimbiss, obwohl Bratwurst und Pommes bei über 30
Grad Celsius auch nicht gerade das ideale Futter sind. Bis Einbeck
sind's noch 35 Kilometer, wenn ich mich nicht nochmals verrechne
und es geht von nun an aufwärts und wir pfeifen jetzt schon
aus dem letzten Loch. Anscheinend sind wir die Hitze nicht mehr
gewöhnt. Wir beschliessen, bis zum nächsten Ort - Stadtoldendorf
- zu radeln und dort eine Lagebesprechung zu halten.
Es geht gut und gerne 10 Kilometer eine schiefe Ebene hinan. Es
ist nicht steil und durchwegs moderat zu fahren, aber heute haben
wir das erste Mal auf der Reise starken Gegenwind, den vor allen
Dingen Margrit merkt, und mit der Lust am Fahren, die heute Vormittag
so intensiv war, ist es für den Augenblick vorbei. Wir machen
Strecke. Wenigstens ist die Gegend schön. Oben auf dem Hochplateau
drehen Windräder elegant ihre riesigen Propellerblätter
im Luftzug. Ich persönlich finde nicht, dass sie die Landschaft
verschandeln. Das Kernkraftwerk heute früh und grosse Überlandleitungen
dagegen schon.
Endlich in Stadtoldendorf angekommen, ist unser Energielevel auf
dem Nullpunkt angekommen. Ich merke das bei mir vor allen Dingen
als ich gereizt auf den LKW-Fahrer reagiere, der mich bei der Einfahrt
nach Stadtoldendorf auf der Bundesstrasse zwar ordentlich und mit
reichlich Abstand überholt, aber dann viel zu schnell wieder
einschert und mir dabei kurzzeitig das Adrenalin hochjagt. Also
hier ein Eis samt Lagebesprechung. Diese ergibt, dass es für
heute einfach reicht und wir uns gleich hier einquartieren wollen.
Zwar platzt dadurch das Treffen mit Tine, aber das holen wir ein
anderes Mal nach. Versprochen!
Stadtoldendorf ist ein nettes Fachwerkstädtchen, nicht so touristisch
wie Hameln und auch nicht so auf Museum getrimmt. Abends sitzen
wir vor einer Pizzeria auf dem Marktplatz und lesen oder schreiben.
Auf dem Nebentisch höre ich eine junge Frau mit ihrem Baby
einem Freund die Leidensgeschichte ihres Hundes erzählen, der
anscheinend vor kurzem vergiftet wurde. "Diese Leute sollte
man am nächsten Ast aufhängen", meint sie. Schon
ein bisschen krass, finde ich. Natürlich kann ich ihre Wut
auf eine solche Tat total nachvollziehen! Die Angst vieler Menschen
vor den aggressiv und gewalttätig aussehenden Hunden, die heutzutage
hier in den Innenstädten herumgeführt werden allerdings
auch. Da treibt es mir nämlich manchmal auch den Angstschweiss
ins Gesicht und ich wechsle dann ganz unauffällig die Strassenseite.
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Heute sind wir pünktlich um acht Uhr auf Piste. Schönstes
Sommerwetter - wieder mal - und noch herrlich kühl. Als wir
auschecken wollen, drängen sich an der Rezeption noch zwei
junge Damen vor, Business Outfit, Anfang/Mitte 20 oder so, und machen
den Portier an, weil das Taxi noch nicht da ist und er solle gefälligst
mal nachhaken, etc. Arrogante Schnepfen! Die beiden sind uns beim
Frühstücken schon aufgefallen. Ich weiss nicht so recht,
ob ich verärgert oder belustigt sein soll. Angesichts meines
momentanen Seins-Zustandes als Urlauber und meiner guten Laune entscheide
ich mich jedoch für Letzteres.
Die ersten Minuten bis Wangelnstedt geht's wieder bergauf, aber
wir beachten es kaum, weil wir die Morgenstimmung auf uns wirken
lassen. Aus dem Wäldchen rechts kommen drei Bussarde geflogen
und beginnen im Aufwind zu kreisen. Jetzt bestimmt Getreideland
die Landschaft, Viehweiden und Wiesen sieht man kaum noch. Hinter
Wangelnstedt lassen wir den R1 R1 sein und bleiben auf der kleinen
und kaum befahrenen Landstrasse, die hinunter in ein weites Tal
führt. Sieht irgendwie aus wie verheissenes Land - promised
land. Mir kommen allerhand Szenen in den Sinn, zum Beispiel die
europäischen Auswanderer in Amerika, wie sie vielleicht von
einer Hügelkuppe aus das erste Mal ihre neue Heimat zu Gesicht
bekommen und in eine neue, hoffnungsvolle Zukunft blicken. Margrit
denkt Ähnliches, allerdings hat sie Moses im Sinn, wie er sein
Volk nach Jericho und/oder Juda führt (muss das mal wieder
in der Bibel nachlesen).
Doch zurück in die Realität. Die Bananenpause, während
der wir diesen Gedanken freien Lauf liessen, ist vorüber und
wir gleiten hinab in dieses Tal. Die nächsten 15 bis 17 Kilometer
bis zur Stadt Einbeck sind geschenkt - er rollt stetig sanft bergab
und ich brauche eine zeitlang nicht zu treten, muss allerdings permanent
bremsen, damit ich Margrit nicht davonrolle. Eigentlich trifft es
sich ganz gut, dass wir diese Passage jetzt erst, also heute vormittag,
befahren, denn gestern hätten wir das nicht mehr so geniessen
können. Ausserdem ist der Morgen für mich die schönste
Zeit des Tages. Grandiose weite Landschaft hier! Sagte ich das schon?
Allerdings gelingt es mir nicht, die ganze Szenerie so zu fotografieren
wie wir es im Augenblick empfinden. Also denkt an Moses und Jericho
und subtrahiert einfach ein bisserl was von der Dramatik (denn immerhin
sind wir hier ja "nur" in good old Germany), schon habt
ihr das Bild.
Einbeck ist eine Fachwerkstadt und wartet mit einer Unmenge von
gut erhaltenen historischen Häusern auf. Und die Fussgängerzone
mit ihren Strassencafés ist prädestiniert für eine
Pause. Leider wird hier im Moment recht viel gebaut, sodass der
optische Eindruck nicht ungetrübt ist. Aber c'est la vie, hier
leben ja auch Menschen und es ist keine Museum (obwohl es fast so
wirkt) und es muss halt auch gebaut werden. Im ausgewählten
Café ensteht kurz nach unserer Ankunft grosse Hektik, denn
nacheinander überfluten zwei Schulklassen das Lokal und alles
geht wild durcheinander. Arme Bedienung! Es ist wohl der letzte
Tag vor den Ferien und damit Wandertag oder so. Also am besten wieder
den Blick auf das Strassengeschehen gerichtet. Lastwagen, Bagger,
Bauzäune vor dem Rathaus mit den drei Türmen, da lässt
sich nur schwer fotografieren. Aber es liegt eine heitere Stimmung
in der Luft, uns fällt kein Ort auf der bisherigen Reise ein,
der so hell und positiv auf uns wirkt. Und - Margrit bitte weghören
- hier sieht man das erste Mal gut gekleidete und gut aussehende
Frauen! Und das nach fast eineinhalb Wochen!
Eine Feldarbeiterin. Hochschwanger. Das T-Shirt bis zur Brust hochgeschoben,
sodass der enorme Bauch Frischluftzufuhr bekommt. Und dazu eine
Zigarette im Mund und eine Mistgabel in der Hand. Dieses Bild zeigt
sich mir, als wir hinter Einbeck auf lebhafter Landstrasse dem Tal
der Leine folgen. Leider kann man sowas nicht so spontan fotografieren,
wie man es beim Vorbeirollen registriert. Scheint so, als ob die
Fotoausbeute heute eher nicht so gut ausfallen wird...hm.
Das alles ist aber trotzdem schnell wieder vergessen, denn ein Weilchen
später gilt es, eine Entscheidung zu treffen. Vor uns liegen
etwa 1,5 Kilometer sehr holpriger und unwegsamer Wegstrecke. Der
Reiseführer warnt davor und schlägt eine Alternativroute
vor, die allerdings 4 mal so lang ist. Im Internet bin ich auch
schon vor dieser Passage gewarnt worden und wenn ich mich recht
erinnere, ist sie auch von Reini erwähnt worden. Also die moderate
und längere Alternative. Es geht vielleicht 2 Kilometer bergan,
links eine Bahnlinie, dann ein Bahnhof, wir überqueren die
Schienen und machen uns auf den Rückweg zur Hauptroute. Und
hier beginne ich die grandiose Meisterleistung, dass ich auf diesem
Rückweg eine Kreuzung zweier Wirtschaftswege falsch interpretiere
und wir kurz darauf (fast) wieder am Ausgangspunkt der Alternativroute
angekommen sind... Margrit ist zum guten Glück geduldig mit
mir und enthält sich jeglichen Kommentars, obwohl ein verräterisches
Augenzwinkern ihren Gemütszustand wiederspiegelt...äh...tja...dann
also doch den "bösen" Weg fahren - denn nochmals
den Berg hinan, das wäre dann doch zuviel des Guten. Und das
schlechte Wegstück, dass wir nun in Angriff nehmen, ist gar
nicht so schlimm. Zwar ist der Feldweg recht ruppig und es geht
die letzten hundert Meter recht steil bergab, aber sogar ich mit
dem Liegerad komme hier gut zurecht. Jedenfalls wird die gesamte
Episode im nächsten Ort, das ist Bad Gandersheim, zu Grabe
getragen. Als Leichenschmaus gibt's Apfelschorle und Flammkuchen
mit Zwiebeln und Speck. Prost Mahlzeit!
Bad Gandersheim ist wohl ebenso touristisch wie Einbeck - zumindestens
spuckt ein Reisebus auf dem Marktplatz Kulturbeflissene und Wandersleut'
aus - aber nicht so verkehrsberuhigt. Während der Stunde, in
der wir uns von der Irrfahrt erholen und essen, sitzt ein Herr in
der prallen Sonne auf einem Bänkchen. Wie hält man das
bloss aus? Hier gibt es auch einen Dom und dieser ist im Reiseführer
als bedeutendes Bauwerk der deutschen Romanik ausgewiesen. Und von
aussen sieht er auch so aus (jedenfalls auf der einen Seite, die
nicht gerade als Kulisse für eine Theaterveranstaltung benutzt
und deswegen eingezäunt und teilweise zugebaut ist), innen
verfehlt er jedoch seine Wirkung auf uns, zumal das Kircheninnere
zur Zeit als technische Zentrale des Theaterspektakels dient.
Später radeln wir durch den Kurbereich und kurz nach dem Ortsende
wartet ein plötzlicher Szenenwechsel auf uns, als wir unversehens
in einen Tunnel aus Buschwerk und kleinen Bäumen eintauchen
und auf einem schmalen Pfad einen Bach entlang geleitet werden.
Boden und Wasser und das sandige Steilufer des Rinnsales sind von
Licht und Schatten gesprenkelt und eigentlich könnten hier
Eisvögel brüten, sinniere ich so vor mich hin. Gesehen
hab ich allerdings keinen einzigen.
Dann ist für eine Weile Schluss mit lustig, denn die nächsten
6 km geht's wieder mal bergauf: wir müssen über einen
Berg fahren, der "Heber" heisst. So einen Heber könnten
wir selber gut gebrauchen, jetzt in der Nachmittagshitze. Aber da
uns niemand über den Heber hinüberhebt, treten wir halt
selber in die Pedale. Belohnt werden wir allerdings durch eine hervorragende
Aussicht, das soll hier auch nicht verschwiegen werden. Zuerst das
Panorama beim Blick zurück und dann, als wir uns hinübergehoben
haben, das Panorama des vor uns liegenden Harzgebirges. Dunkle Wälder
sind das, eine Landschaft, wie geschaffen für den Ursprung
von Sagen und Legenden.
Jetzt sind wir oben. Nochmal die Schnürsenkel festgezogen und
alles festgezurrt, was nicht niet- und nagelfest ist, und dann runter
ins Tal der Nette. Die rasante Talfahrt kann nicht darüber
hinwegtäuschen, dass wir für heute satt sind. Es ist erst
kurz nach zwei, aber falls ein nettes Hotel hier im Tal der Nette
am Wegesrand läge - wir würden sofort zuschlagen! Wir
setzen eine Prämie aus: wer zuerst ein Hotel sieht, darf auch
zuerst unter die Dusche! Doch weder Bilderlahe noch Bornhausen und
schon gar nicht Neuekrug warten mit der nötigen Infrastruktur
auf. Im Gegenteil: an dieser Stelle geht der R1 in den Harzrundweg
auf, und das Vorankommen wird schwerer. Manchmal ein recht gut befahrbarer
Waldweg, ein andermal eine aufgerissene Teerdecke über Kopfsteinplaster
und das alles nicht gerade brettl-eben, da kommt sogar die Federung
unserer Räder an ihre Grenzen. Immerhin treffen wir unterwegs
ein Ehepaar aus Belgien, die von zuhause aus bis nach Prag radeln.
Die beiden haben ihre Räder vollbepackt bis obenhin, sehen
allerdings so aus, als ob sie solche Reisen nicht zum ersten Mal
unternehmen. Als wir im Wald an einer Kreuzung nicht weiter wissen,
suchen wir gemeinsam nach einer Lösung und finden den rechten
Weg. Bravo!
Mittlerweile - das schiebe ich hier einfach mal dazwischen - hat
sich herauskristallisiert, dass wir überhaupt keine Lust auf
Jugendherbergen haben, sondern, ehrlich gesagt, froh sind, wenn
wir am Ende einer Tagesetappe ein Zimmer für uns selber zur
Verfügung haben, eine eigene Dusche mit WC, und ich muss gestehen,
dass ich nach einem Radl-, Schreib- und Maltag auch gerne noch für
eine Stunde in der grossen weiten Welt der Television versinke.
Auch steigt inzwischen unser Komfortbedürfnis an, und zwar
anscheinend synchron mit der Müdigkeit am Ende einer Tagesetappe.
So sehe ich uns auf dieser Reise von der 3- zur 4-Sterne-Unterkunft
hin tendieren, was zwar die Kosten nicht unerheblich in die Höhe
treibt, aber wir wollen uns das leisten (Wie sich das dann zum Beispiel
auswirkt wird man spätestens am nächsten Tag sehen). Auf
dieser Reise wird fortgesetzt, was wir voriges Jahr schon begannen:
zur reinen Radreise kommen auch noch Wellness-Komponenten hinzu,
dazu gehört neben dem Baden auch noch gutes Essen und Trinken
und eben auch noch eine niveauvolle Unterkunft. Es mag vielleicht
dem ein oder anderen Leser vorkommen, als wäre der Schreiberling
hier ein rechter Krösus - was definitiv nicht der Fall ist
- aber wir haben in einem Jahre dauernden Prozess ein bestimmte
Kultur des Geniessens entwickelt, wobei wir uns langsam und allmählich
gegenseitig eingestanden haben, dass wir beide anfällig für
Luxus sind. Und das leben wir jetzt in unserem Rahmen auch aus.
Zwar ist hinterher dann für eine gewisse Zeit Schmalhans Küchenmeister,
aber das ist es uns wert. Punkt.
Also eine komfortable Unterkunft. Sofern man diese findet, denn
wir befinden uns immer noch auf der Suche. Goslar ist nicht mehr
gar so fern, die Distanz bis dorthin scheint uns aber angesichts
des momentanen Müdigkeitsgrades wie die Entfernung von der
Erde zum Mond. Die nächste Stadt heisst Langelsheim und wir
"gönnen" uns auf den letzten paar Kilometern den
glatten Asphalt der Bundesstrasse, weil wir einfach keine Lust mehr
haben, der offiziellen Route auf diesen Wegen bergauf und bergab
durch den Wald zu folgen.
Und bald steht fest: Margrit darf als erstes duschen! Denn sie entdeckt
das italienische Restaurant "La Fontana" mit Zimmervermietung.
Das Restaurant hat jetzt am späten Nachmittag noch geschlossen,
aber als ich am Hintereingang läute, rumort es im Inneren.
Die Tür geht auf und ein dunkelbrauner Dreikäsehoch erschrickt
bei meinem Anblick dermassen, dass er zu weinen beginnt (Was hab
ich nur für eine Ausstrahlung auf Kinder?? Muss ja schlimm
sein...). Doch dann erscheint gleich der Papi und die Welt ist wieder
in Ordnung und wir bekommen unser Zimmer. Des Knaben dunkle Haut
kommt nicht etwa vom ausgiebigen Sonnenbaden, sondern resultiert
aus seiner Abstammung: die Familie kommt aus Sri Lanka und leitet
hier schon seit 15 Jahren ein italienisches Restaurant, die Mutti
ist eine elegante und distinguierte Schönheit (heute ist anscheinend
der Tag der schönen Frauen) und das Abendessen ist das absolut
beste der bisherigen Reise! Ungelogen!
Heute sind wir rechtschaffen müde. Wie ja gestern auch schon.
Auf Veloreisen ist man so reduziert auf das Wesentliche: Streckenführung,
den eigenen Energiehaushalt am Laufen und im Gleichgewicht halten,
Unterkunft finden, Tagebuchschreiben und mit sich selber konfrontiert
sein. Ich mag das!
In unserem Zimmer hängt ein Poster, dass mir sehr bekannt vorkommt:
zwei unbelaubte Bäume vor Wintersonne, alles recht pastellig
airgebrushed. Das erinnert mich an die Poster- und Schallplatten-Bestellaktionen
(bei "Govi") während meiner Schülerzeit. Unglaublich,
wie lange wir damals immer auf die Auslieferungen gewartet haben,
das waren oft 5-6 Wochen! Sowas würde heute niemand mehr akzeptieren
wollen. Aber damals war es die einzige Möglichkeit für
uns auf dem Dorf, an die angesagten Scheiben zu kommen und so hat
man es halt auch hingenommen. Ausserdem kannte man es ja nicht anders.
Und Lance ist wohl kaum mehr zu schlagen. Das wird sein 7. Tour
de France-Erfolg.
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Um den Faden von gestern weiter zu spinnen: woran
erkennt man ein gutes Hotel? Geräumiges Zimmer? Sauberkeit? Nicht
durchgelegene Betten? Minibar (gefüllt)? Weit gefehlt! Die Güte
eines guten Beherbergungsbetriebes misst man daran, wie lange die
Toilettenlüftung noch weiterläuft, nachdem man sein Geschäft
mitten in der Nacht verrichtet und das Badezimmerlicht gelöscht
hat und wieder zurück ins Bett gestolpert ist. Das ist die einzig
wichtige Masseinheit, die zählt! Das gestrige Hotel ist Anwärter
auf den Preis für die längste Lüftungsdauer. Also was
mich betrifft: mich können Lüftungsgeräusche schier
in den Wahnsinn treiben. Egal ob Rauchabzug über dem Elektroherd,
Klimaanlagen oder wie hier im Badezimmer die Lüftung. Dieses
ständige Geräusch im Hintergrund lässt mich einfach
nicht zur Ruhe kommen. Besonders natürlich, wenn ich einschlafen
will. Weiter auf dieser Liste stehen noch Diesel im Standgas. Genau,
so ist es: Lüftungen, Klimaanlagen, Diesel im Standgas. Heute
habe ich also wieder ein Feindbild, über das ich mich auslassen
kann, da wird mir nicht langweilig werden.
Wenn ich an dieser Stelle schriebe, dass ich heute topfit sei, so
wäre das eine glatte Lüge und ich möchte ja, wie eingangs
erwähnt, der Wahrheit so nahe wie möglich kommen. Deswegen
nur kurz: ich fühle mich heute wie gerädert und komme einfach
nicht in die Gänge. Anscheinend brauche ich meinen Schlaf. Dementsprechend
zäh läuft es heute an. Zudem kommt noch eine gewisse Unsicherheit
bezüglich unserer Taktik in den nächsten zwei Tagen hinzu,
denn es liegen nun zwei Städte vor uns, die wir unbedingt ausgiebiger
besichtigen wollen, und zwar Goslar und Quedlinburg. Zwischen beiden
Städten liegt eine steigungsreiche Strecke entlang des Harzes,
noch dazu von schlechter Wegequalität. Gestern hab ich auf der
Landkarte zwar eine Nordumgehung dieses Gebietes herausgearbeitet,
aber so richtig zufrieden bin ich damit nicht. Der Harz selber, dass
muss ich vielleicht noch erzählen, ist nicht so recht nach unserem
Geschmack: wir sind nämlich keine Nadelwald-Freaks! Bäume
sind meine Lieblingsplanzen, das ist richtig. Bäume und Gräser.
Aber Nadelbäume mag ich nur als Einzelbäume, nicht als grosse
dunkle Wälder. Irgendwie stimmen diese mich traurig und düster.
Naja, soviel zu meiner Launenhaftigkeit. Margrit geht's bezüglich
dunkler Wälder nicht unähnlich und so bestehen wir beide
nicht unbedingt auf ein Radeln durch die Wälder dieses Mittelgebirges,
zumal später auf der Reise noch grosse Waldgebiete auf uns warten.
Aber so weit nach Norden? Oder etwa gleich die Bundesstrasse entlang?
So wie jetzt, wo wir bis Goslar sowohl auf die offizielle Route, als
auch auf die im Reiseführer vorgeschlagene Alternative verzichten
und einfach auf dem Radweg neben der Bundesstrasse fahren.
Ortsschild Goslar, Hinweise auf Parkmöglichkeiten. Das interessiert
uns weniger. Dann lieber den Schildern Richtung Innenstadt folgen
und zuerst mal zur Kaiserpfalz radeln. Kaiser Friedrich I. Barbarossa
und Kaiser Friedrich Wilhelm der ich-weiss-nicht-mehr-wievielte reiten
auf ihren Rössern vor dem altehrwürdigen Bauwerk und kommen
aufgrund massiver Sockel und ihrer allgemeinen bronzenen Leblosigkeit
nicht so recht von der Stelle und wir können nicht hinein in
die Pfalz, weil dort erst um 10 Uhr geöffnet wird. Margrit klappt
die Kinnlade herunter und dafür können nun auch die zwei
Fritze nichts. Also dann halt doch erstmal in die Altstadt und einen
Kaffee trinken. Wir sitzen vor dem roten Hotel
Kaiserworth auf dem Marktplatz im Schatten. Angenehm ist das.
Auch die Atmosphäre hier vor dem Hotel, das übrigens im
15. Jahrhundert fertiggestellt wurde und zuerst als Gildehaus der
reichen Fernhändler und Gewandschneider diente, bevor es irgendwann
(und das auch schon vor recht langer Zeit) als Herberge umfunktioniert
wurde. Das ist also ein Weltkulturerbe der UNESCO! Prächtige
Fachwerkhäuser. Ein gotisches Rathaus. Ein sehr gut erhaltene
mittelalterliche Altstadt. Wie geht's jetzt weiter? Sind wir selber
nicht auch Kulturerben? Zumindestens der mitteleuropäischen Kultur?
Oder ist diese Idee zu versponnen? So gehen die Gedanken spazieren
und ein Wort ergibt das andere und die Bedienung hier vor dem Hotel
Kaiserworth ist wirklich sehr sehr freundlich und der Kaffee exzellent
und der Zimmerpreis, der dort auf der Säule vor dem Portal angeschrieben
steht, ist gar nicht mal so teuer wie angesichts dieser Pracht vermutet
und ich bin heute sowieso nicht aufgelegt zu einem ausgiebigen Radltag
und eigentlich sollte man der Stadt mindestens einen Tag widmen und
Margrit will unter allen Umständen in die Kaiserpfalz und ein
paar Minuten später haben wir einen massiven Zimmerschlüssel
in der Hand. Das nenne ich nun ein feudales Hotelzimmer! Badezimmerlicht
an - Lüftung schaltet ein! Badezimmerlicht aus - die Lüftung
schaltet aus! Und zwar sofort und ohne Nachlauf!
Heute also ein unverhoffter velofreier Tag. Wir begeben uns wieder
zur Kaiserpfalz und kommen gerade rechtzeitig zur Führung. Wir
lernen allerhand über die wechselhafte deutsche Geschichte von
Karl dem Grossen über Kaiser Barbarossa bis zum letzten deutschen
Kaiser, der während des 1. Weltkrieges abdanken musste, aber
das ist uns nicht gänzlich unbekannt. Viel interessanter ist
die wechselhafte Geschichte dieses Bauwerkes und dass es schon im
19. Jahrhundert kurz vor dem Abriss stand. Und noch interessanter
ist das Wissen, dass die Herrscher im Mittelalter "Wander- und
Reisekaiser" waren, die ständig mit dem gesamten Hofstaat
von Pfalz zu Pfalz und von Stadt zu Stadt zogen, weil sie sonst ihr
Reich nicht hätten kontrollieren können. Dauerreisende.
Diesen Job muss man auch mögen. Wir mögen jetzt eher eine
Mittagsschläfchen. Spricht ja auch nichts dagegen, oder?
Der Stadtrundgang am Nachmittag offenbart das, was wir schon am Morgen
vermuteten: Goslar ist eine sehr sehenswerte Stadt! Mit der Zeit gewöhnt
man sich allerdings auch an die historischen Gässchen und die
restaurierten Häuser und nimmt es als selbstverständlich
hin. Die Kirchen sind äusserlich immer noch ansprechender als
von innen, auch hier. In einer wird man mit Orgelmusik vom Band beschallt,
penetrant irgendwie. Das mag ich nun wieder nicht so gerne, weil für
mich Gotteshäuser auch ein Ort der Ruhe und der Einkehr sind.
Aber ich sollte wohl lieber meinen Mund halten, immerhin bin ich nur
mehr ein Schein-Katholik mit latentem Hang zum Buddhismus.
Die Zeit schreitet voran. Morgen in einer Woche müssen wir in
Berlin sein, Hotel und Rückreise sind ja schon gebucht. Wie kriegen
wir das denn nun alles auf die Reihe? Die Tagesetappen ergeben sich
von hier aus fast automatisch durch die geographische Lage der zu
besichtigenden Orte. Und Quedlinburg, das nächste Highlight.
Da sollte man auch einen ganzen Tag verbringen. Wie bekommen wir das
geregelt? Ganz einfach: wir lassen jeglichen Ehrgeiz beiseite, pfeifen
auf die Radlerehre und fahren morgen mit dem Zug von Goslar nach Quedlinburg!
So schlagen wir zwei Klappen mit einer Fliege
und brauchen uns a) keine Gedanken mehr über eine annehmbare
Radstrecke nach Q.-Burg machen und haben b) fast den ganzen Tag für
die Stadtbesichtigung zur Verfügung. Und
da mittlerweile auch der dritte Stift leergeschrieben ist und ich
zu faul bin, um ins Zimmer
zu gehen und einen neuen
zu holen, schliesse ich das Tagebuch
für heute und widme mich dem badischen Spätburgunder Weissherbst,
der vor mir in der Abendsonne so herrlich
rosa - auch ohne Sonnenbrille
- funkelt... |
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Frühstück im Freien. Ja, das können
wir uns leisten bei diesem Kaiserwetter! Nochmals zu den beiden Bronzekaisern
rollen, "ciao" sagen und dann durch die Altstadt zum Goslaer
Bahnhof radeln. Der Zug fährt die grösseren Orte am Harzrand
an und während wir vom Zug aus auf das blicken, was uns entgangen
ist bzw. wir uns erspart haben, beglückwünschen wir uns
zu unserer Massnahme. Einzig in Wernigerode bedauern wir angesichts
des Schlosses unsere blosse Durchfahrt.
Wo fängt er denn nun endlich an, der Osten? In Halberstadt! Dort
ist uns aber keine einzige Museminute vergönnt, denn wir müssen
uns sputen, damit wir den Anschlusszug nach Quedlinburg noch erwischen.
Nun sind wir also in Sachsen-Anhalt. Drinnen im Zug haben es sich
im Veloabteil zwei Kids mit BMX-Rädern bequem gemacht und ein
junger Mann um die 30, der, inzwischen längst Wahl-Münchner,
nichts Gutes an Sachsen-Anhalt im Allgemeinen und an Quedlinburg im
Besonderen lassen will. Die Zustände, die Mentalität, die
Rückständigkeit, die nicht vorhandenen Mittel. Wir schweigen
dazu und sind höflich, denn 1.) müssen wir noch verschnaufen
2.) können wir uns einfach noch kein Bild machen. Die Fahrt vom
Bahnhof in die Quedlinburger Innenstadt zeigt dann zwar recht ruppiges
Kopfsteinpflaster, aber auch eine sehr interessante und vielschichtige
Stadt, die viel Patina aufweist. Ein Vergleich zwischen Goslar und
Quedlinburg drängt sich zwar auf, besonders da zwischen den beiden
Städten nur eine kurze Zugfahrt liegt, aber man wird keiner von
beiden gerecht, wenn man sie untereinander vergleichen würde.
Wir setzen uns neben der Touristeninfo erstmal in ein Strassencafé,
essen ein bisschen was und widmen uns sowohl dem Unterkunftsverzeichnis
als auch dem Leben auf dem Marktplatz. Vor dem mit Wein überwachsenen
Rathaus wird gebaut. Neben mir beklebt ein durchgeistigt wirkender
Herr in mittleren Jahren eine Litfasssäule akribischst mit Plakaten
und neben uns sitzt ein Greiss, der sehr bedächtig und mit Genuss
einen Eisbecher isst. Und dann, es mag etwa 13 Uhr sein, kommt ein
Gewitter. Aber da haben wir schon längst im Hotel
Theophano eingecheckt und beobachten das Wettergeschehen vom Dachfenster
aus. Dieses Hotelzimmer ist wohl das Schönste auf der ganzen
Reise und die Lüftungsfrage ist hier äusserst elegant gelöst:
das Badezimmer besitzt nämlich ein Fenster...
Stadtrundgang. Der Schlossberg zuerst. Wir kommen grad wieder mal
richtig zur Führung. Als wir genug über den Domschatz und
den Dom selber und archäologische Funde hier in der Gegend erfahren
haben, geht nochmals ein Wolkenbruch hernieder, was die Sonne aber
nicht daran hindert, zusätzlich auf den Plan zu treten und die
Szene zu beleuchten. Meinetwegen. Ich mache mir beim Blick vom Schlossberg
auf die Dachlandschaft dieses sehenswerten Ortes darüber Gedanken,
warum der Europaradweg diese Stadt gar nicht berührt. Schliesslich
liegt sie ja nur ein paar Kilometer neben der Route und ist eine der
wichtigsten Sehenswürdigkeiten, wie sich im Nachhinein herausstellen
wird.
Wir sind ja das erste Mal in den neuen (ost-)deutschen Bundesländern
und für mich, der so nahe am Eisernen Vorhang aufgewachsen ist,
wecken Reisen in Gegenden des früheren Ostblocks immer gemischte
Gefühle. Die Freundschaften und Begegnungen, die ich in all den
Jahren seit Beginn des Mauerfalles mit Menschen aus der Ex-DDR oder
aus Tschechien habe und hatte, sind alle von einer sehr positiven
Grundstimmung durchzogen. Und jetzt, wo ich hier bin, möchte
ich unwillkürlich erstmal alles "kritisch" durchleuchten,
möchte einen Ost-Bonus vergeben oder das Gegenteil davon, aber
ziemlich schnell wird mir klar, wie unsinnig solches Unterfangen eigentlich
ist. Unsere gemeinsame Geschichte reicht so viel weiter zurück
als die letzten 60 Jahre, das haben wir doch erst gestern bei der
Führung in Goslar erfahren. Hier sind die Menschen auch nicht
anders als anderswo: mein eigenes Lächeln spiegelt sich wieder
in den Gesichtern der KellnerInnen, des Museumspersonals oder der
anderen Menschen, mit denen ich hier in Berührung komme. Die
jungen Frauen tragen die gleichen doofen Jeans mit dem niedrigen Bund
knapp oberhalb der Schambehaarung, die die weibliche Gestalt zur Komikfigur
oder blossen Karrikatur verkommen lassen und die jungen Männer
tragen Glatzköpfe und Tättowierungen wie überall. Also
lasse ich lieber die Atmosphäre auf mich wirken und freue mich
über diese Stadt in ihren verschiedenen Verfalls- und Renovierungszuständen.
Abends, als sich die Wetterlage beruhigt hat, essen wir in einem der
Freiluftrestaurants auf dem Marktplatz. Wir essen und trinken gut
und beobachten, wie langsam aber sicher die Trottoirs hochgeklappt
werden. Vor uns befindet sich ein recht neuer Springbrunnen, bzw.
es ist eher eine Art Kunstwerk mit Sitzgelegenheit, in deren Mitte
4 oder 5 in Bronze gegossene Blasmusiker beim Musizieren dargestellt
sind. Ein halbes Dutzend Motorradfahrer kommt mit je einem Eis in
der Hand herangeschlendert, jeder in schwarzer Lederhose mit Trägern,
ebensolchen Stiefeln und einem durchgeschwitzten T-Shirt, das sich
über einem mehr oder minder ausgeprägten Bierbauch spannt.
Sie setzen sich auf das Monument und schauen aus wie aufgereihte Hühner
(oder Hähne) auf der Stange. Leider kann ich das nicht so fotografieren,
dass die Situationskomik ersichtlich wird. Auch die folgende Szene
mit dem vorbei stolzierenden Paar - er erhobenen Hauptes zwei Meter
voran, sie wie an einer Schnur geführt hinterdrein - bleibt nur
als Bild in meinem Gedächtnis gespeichert. Drei Kinder machen
den Marktplatz zum Spielzimmer: sie haben ihre eigenen kleinen Plastikstühle
mitgebracht und gehen ganz in ihrem Spiel auf. Auch schön, sowas
zu beobachten.
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So heiss
heute schon am Morgen. Und Getreidefelder bis zum Abwinken, ich meine:
bis zum Horizont. Und schnurgerade Strassen. Heute bin ich schlecht
gelaunt. Das mag daran liegen, dass ich hier mit dem Liegevelo angegafft
wäre, als käme ich von einer anderen Galaxie oder liefe
in des Kaisers neuen Kleidern durch die Gegend. Die neugierigen Blicke
bin ich ja gewohnt, seit ich Liegerad fahre, aber dazu die Kommentare,
das geht mir ehrlich gesagt heute gewaltig auf den Keks! Das fing
heute morgen schon in Quedlinburg an: "Nicht einschlafen, Meister",
"Faulpelz" oder "Schau mal, der will nicht aufstehen
und noch weiterschlafen" und so weiter und so fort und in jeder
Ortschaft, durch die wir kommen. Bin ich ungerecht? Was erwarte ich
eigentlich? Keine Ahnung, aber heute bin ich in einer Stimmung in
der ich am liebsten in Ruhe gelassen werde, weil ich mich erstmal
selber sortieren muss, bevor ich dann gesammelt an die Aussenwelt
treten kann. So geht das bis Mittag und findet seinen Höhepunkt
in Strassfurt, wo es für mich ein richtiger Spiessrutenlauf ist,
bis wir endlich in der Innenstadt in einem Strassencafé einen
"geschützten" Platz gefunden haben: denn sobald ich
vom Rad steige, bin ich wieder ein normaler Mensch und dass die Passanten
verwundert die Speedmachine beim Vorbeigehen mustern, ist mir dann
reichlich egal. So grummle ich vor mich hin und taue erst nach der
zweiten Apfelschorle und dem gemischten Salat wieder auf.
Dabei gab's eigentlich einen interessanten Vormittag. Zuerst mal die
Strassenverhältnisse. Sie sind ja schon gewöhnungsbedürftig.
In den meisten Ortsdurchfahrten Kopfsteinpflaster - und das dann durchwegs
gröberer Art. So kleine Landstrassen zwischen zwei Dörfern,
die man bei uns inzwischen als Schnellstrasse ausgebaut vorfindet,
sind hier oft gänzlich unbefestigt. Allerdings ist neben diesen
Strassen oft ein Veloweg angelegt, ein handtuch-breiter asphaltierter
oder fein gekiester Pfad, auf dem sich recht gut radeln lässt.
Einmal fahren wir auf einer dieser Strassen dahin, rechts Felder mit
Windrädern, soweit das Auge blicken kann, rechts eine Allee mit
verschieden alten und hohen Bäumen. Niemandsland. Auf einmal
kommt ein Tanklaster des Weges, hält bei jedem Baum, und eine
Frau steigt aus und giesst eine ansehnliche Ladung Wasser über
die Pflanze. Auch eigenartig, irgendwie. Aber sympathisch.
Nach besagter Mittagspause habe ich mich dann endlich halbwegs eingekriegt
und es heitert und klärt sich alles zusehends auf. Eigentlich
sollte ich mich inzwischen, nach bald 43 Lebensjahren, doch einigermassen
kennen: dass ich immer von meiner eigenen schlechten Laune auf die
äusseren Umstände schliessen muss...naja, Schwamm drüber.
Zumal es jetzt sehr schön weiter geht. Wir radeln auf einem Wiesenweg
entlang des Flüsschens Bode, kommen am Schloss Hohenerxleben
vorbei und ein paar Lidschläge später durch einen dichten
Auwald, und das alles auf Wegen, die ich so nur mehr aus meinen Kindertagen
kenne.
Bei Nienburg an der Saale treffen wir auf den Saale-Radweg. Entgegen
der Beschreibung in unserem Führer ist er hier auf einem längeren
Abschnitt frisch asphaltiert, was wir nach dem holprigen Tag natürlich
geniessen. Wir fahren jetzt ausnahmsweise nach Süden, den der
R1 will natürlich auch Bernburg an der Saale berühren. Uns
soll's recht sein, denn die Stadt bietet sich als Etappenziel an.
Auf der Einfallstrasse nach Bernburg - wir haben es plötzlich
recht eilig, weil von Westen eine Gewitterfront droht - sind wir wieder
mit Kopfsteinpflaster konfrontiert. Unsere Begeisterung angesichts
dieses Strassenbelages hat sich nach einem Radltag gelegt, obwohl
es natürlich optisch gut aussieht. Weiter heute: Touristeninfo,
Hotel ausgewählt, angerufen und Zimmer reserviert, Zimmer bezogen,
TV an und während der Siesta Tour de France geguckt. Die haben
35 Grad im Schatten und 187 Kilometer absolviert und sind dazu noch
schneller als wir unterwegs. Allerdings OHNE Gepäck! Lance natürlich
in gelb.
Das Gewitter hängt fast statisch am Himmel. Will es nun kommen
oder nicht? Wir essen ein Eis im Freien, gehen aber nach ein paar
Minuten dann doch ins Innere, denn jetzt geht's los. Nebenan sitzt
ein Elternpaar samt Sohnemann im Teenie-Alter, der stumm die Schultern
hängen lässt. Die Eltern versuchen dem Filius ins Gewissen
zu reden oder/und ihm Ratschläge zu geben. Entweder hat er Probleme
im Freundeskreis oder in der Lehre oder seine erste Freundin hat ihm
den Laufpass gegeben, irgendwas in der Art jedenfalls. Vater und Mutter
sind sehr bemüht und der Sohn lässt es über sich ergehen,
ist halt noch nicht lebenserfahren genug um über den Tellerrand
hinaus zu blicken. Und wer von uns Erwachsenen kann das schon?
Die Ortsbilder haben sich wieder verändert. Das Fachwerk ist
fast gänzlich verschwunden. Barock und klassizistische Fassaden
dominieren. Die Gebäude werden/wurden hier sehr geschmackvoll
renoviert. Zum Abendessen landen wir (endlich!) in einem Thai-Restaurant.
Wir sind die einzigen Gäste, dabei ist es um 18 Uhr wahrlich
nicht zu früh zum Abendessen. Nach ein paar Minuten meinen wir
zu verstehen, warum wir alleine in der Gaststätte sitzen: die
Bedienung ist muffig und schlecht gelaunt (was ich ja verstehen kann...),
ausserdem stinkt sie penetrant nach Schweiss. Zu unseren Gerichten
haben wir Wein bestellt, jeder ein Glas einer anderen Sorte Rotwein.
Die Dame bringt uns aber zweimal den gleichen Wein, der zudem noch
einen "Zapfen" hat, also nicht mehr gut ist. Darauf angesprochen
versteht sie nicht oder will nicht verstehen und weigert sich, die
Gläser zurückzunehmen und uns neuen, noch guten Wein zu
bringen. Das finden wir natürlich unmöglich, schliesslich
ist es in den meisten Restaurants Ehrensache, dass man in so einem
Fall für Ersatz sorgt, schliesslich kann ja weder der Gast noch
der Wirt etwas für den Zustand des Weines bei frisch entkorkter
Flasche. Schade, dass durch das Verhalten der Bedienung eine simple
und eigentlich unproblematische Situation eskaliert: die Bedienung
weigerte sich, den Wein überhaupt zu kosten, konterte mit "ich
hab den Wein nicht gekauft" und wird noch mürrischer. Und
wir rühren das Getränk natürlich nicht an, essen unser
Gericht, zahlen dann schnell und gehen. Trinkgeld gibt's halt keines,
tut mir herzlich leid... Im Nachhinein bleibt uns ob dieser Unfreundlichkeit
und Ungastlichkeit die Spucke weg, denn bisher haben wir noch kein
asiatisches Restaurant besucht, in dem wir nicht mit ausgesuchter
Freundlichkeit bedient worden wären.
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Ein leicht bewölkter Morgen, moderate
Temperaturen. Da läuft es gut dahin. Heute werde ich auch nicht
um die Morgenstimmung "betrogen" wie es gestern der Fall
war, denn gestern fing der Tag ohne die Morgenbläue an, die ich
so schätze. Beim Studieren der Routenführung ist mir wieder
der sonderbare Kurs des R1 unangenehm aufgestossen und wir kürzen
demzufolge erneut ab und radeln auf kleinen Landstrassen mit wenig
Verkehr dahin. Das beschert uns in der ersten Stunde zwar schon so
eine Art "Aufstieg" auf den Mühlberg (tippe mal auf
30 Höhenmeter auf ca. 2 Kilometer), von dessen Kuppe gibt es
jedoch einen Rundumblick über die im Morgendunst liegende Ebene.
In den Dörfern wechseln sich wieder Kopfsteinpflaster und Asphalt
ab. Auch heute sieht man Männer mit Bierflaschen herumstehen
oder -sitzen. Da kommen einem allerhand Bilder und Gedanken in den
Sinn, vor allen Dingen zur Würde des Mannes. Oder dass und wie
sich Männer durch ihre Beschäftigung definieren. Oder wie
es zum Selbstverständnis des Mannes gehört, dass er sich
selber durch seiner Hände Arbeit ernähren kann und eine
Familie noch dazu. Und wenn man ihm keine Möglichkeit mehr gibt,
seinen Lebensunterhalt zu verdienen, was dann? Finanzielle Not, Leben
am Existenzminimum ist die eine Sache, aber wie sieht's innen drin
aus? Wie fühlt man sich, wenn man nicht mehr gebraucht wird,
wenn die Fähigkeiten, die man mitbringt, nicht ausreichen für
unsere schnelllebige Zeit? In diesem Zusammenhang gewinnt auch das
Bild des pedantisch-langsamen Plakatklebers von gestern eine andere
Bedeutung. Der Mann war gewiss einmal in einem anderen Beruf tätig,
war vielleicht Lehrer, Wissenschaftler, etc. jetzt klebt er halt Plakate...immer
noch besser als gar nichts und um einiges würdevoller als die
Arbeitslosigkeit. Ich muss in diesem Zusammenhang an meine Eltern
denken, wie sie nach der Frühpensionierung meines Vaters Heimarbeit
übernahmen, um die Rente etwas aufzubessern. Das hatte für
mich einerseits etwas Rührendes an sich, andererseits war ich
auch stolz, dass sie das taten, denn das war für mich ein Symbol,
dass man sein Schicksal selber in die Hand nehmen und das Beste draus
machen kann. Eine Zeit lang war mein Elternhaus mit Einzelteilen von
Postwurfsendungen vollgepackt. Unter anderem auch mit Werbesendungen
des ältesten deutschen Erotikversandes...
Übrigens ist es hier wieder viel sauberer als im westdeutschen
Abschnitt der Reise, man sieht kaum Müll und Abfall rumliegen.
Das fällt mir bei der Besichtigung des Hühnengrabes in Drosa
auf. Ein Naturschutzgebiet, bestehend aus renaturierten Flächen,
auf denen ursprünglich Braunkohle abgebaut wurde, steht als nächstes
auf dem Programm: neu entstandene Seen, Kiefernwälder, Störche,
Enten und Reiher. Das Städtchen Aken hält einen geöffneten
Supermarkt für uns bereit und hier gelangen wir zur Elbe, an
deren Ufer wir ein Restaurant mit Blick auf den Fluss und den Fährbetrieb
finden. Hier ist es zuerst recht ruhig. Die Elbe fliesst träge
dahin. Dann kommt eine Gruppe junger Mädchen, anscheinend eine
Schulklasse, mit ihren Rädern des Weges, vielleicht um die 40
Personen. Wir staunen, wie diszipliniert sie ihre Räder abstellen
und wie "brav" (in positivem Sinne) sie das Restaurant in
Beschlag nehmen, bestellen, verzehren und hinterher die Unordnung,
die eine so grosse Gruppe hinterlässt, wieder aufräumen.
Da kannste mal sehen...
Wir nähern uns Dessau auf einem Radweg an der Bundesstrasse,
wobei ich mir wieder ein "nicht einschlafen!" anhören
muss, als wir eine Gruppe Radler passieren. Heute bin ich aber guter
Dinge, so dass ich mit einem lässigen "keine Angst, ich
habe einen Wecker bei mir" kontern kann. Langsam gewöhne
ich mich an das Bundesland, was bestimmt auch daran liegt, dass ich
lauter offene und nette und lebendige Menschen treffe. Wir werden
- pipi-pause-bedingt - wieder von den Radlern von vorhin eingeholt
und haben diese Gruppe nun vor uns. Im Stadtgebiet von Dessau trennen
sie sich und einer von ihnen wartet auf uns und fragt nach dem Woher
und Wohin. Nachdem er erfahren hat, dass wir das Bauhaus sehen wollen,
bietet er sich an, uns einen anderen, einen schattigeren Weg dorthin
zu zeigen. Der Herr ist hellblond und hat eh schon total gerötete
Haut, da können wir das mit dem Schatten natürlich sofort
nachvollziehen und folgen ihm.
Unvermittelt stehen wir dann ein paar Minuten später vor dem
Bauhaus. Das ist Architekturgeschichte, ich weiss. Ich erinnere mich
noch gut an die Kunstgeschichte-Vorlesungen während meines Studiums.
Aber mir gefällt es nicht, Gropius hin, Feininger her. Auch die
Meisterhäuser werden von mir unter "muss man halt mal gesehen
haben" verbucht. Übrigens steht das alles hier auch auf
der Liste der UNESCO Weltkulturerben. So wie das Biosphärenreservat
Mittlere Elbe, durch das wir heute noch kommen werden. Aber alles
der Reihe nach. Am Georgengarten entlang geht es wieder aus der Stadt
heraus und jetzt liegen sehr schöne 15 Kilometer vor uns: eben
das vorher schon erwähnte Biosphärenreservat Mittlere Elbe.
Auwald-Vielfalt, uralte Eichen, dazwischen wieder Weiden und Sumpfwiesen.
Wir überqueren den Fluss Mulde auf einer Holzbrücke, der
sogenannten "Grossmutterbrücke". Oben stehen Leute
und starren ins Wasser. Was gibt's jetzt da schon wieder zu sehen?
Fische natürlich! Und was für Kaliber! Zwischen einer Schar
Forellen schwimmen 4 oder 5 bestimmt meterlange Exemplare einer Art,
die niemand von uns Unbedarften identifizieren kann. Gemeinsames Rätseln
bringt kein eindeutiges Ergebnis hervor. Einige sind für "Karpfen",
andere sind für "Wels". In Unkenntnis der Sachlage
schliesse ich mich der zweiten Gruppe an und bestehe nicht auf eine
restlose Klärung des Sachverhaltes, obwohl ich angesichts des
schwimmenden Proteins Appetit bekomme. Lieber wieder weiter radeln.
Ganz allmählich geht die Landschaft in einen riesigen Park über,
das ist das Gartenreich Wörlitzer Park. In Wörlitz angekommen
holpern wir wieder durch die Gassen, die diesmal einen höchst
touristischen Eindruck hinterlassen, bis wir endlich das Landhaus
Wörlitzer Hof gefunden haben und unser vorreserviertes Zimmer
beziehen. Hier werden zwei Hochzeitsfeiern gleichzeitig ausgerichtet
und es ist allerhand los. Da kann man natürlich bei Kaffee und
Kuchen prima Millieustudien betreiben und sich an die eigene Hochzeit
erinnern, die gerade mal fünf Jahre zurück liegt. Es bietet
sich hier vor dem Abendessen noch ein Spaziergang durch die Parkanlagen
an, wobei es immer wieder gilt, Inselchen per handgetriebener Fähre
zu erreichen. Zwar kostet jede Fähre extra, aber die paar Cent
fallen nicht wirklich ins Gewicht. Ein Fährmann spricht mich
mit "ah, ein Gitarrist!" an. Er hat wohl die Plektren in
meinem Portemonnaie entdeckt. Ein Tipp ganz unter uns: wer Gelegenheit
und Zeit hat, der sollte sich diesen Park hier einmal zu Gemüte
führen! Und zwar länger als wir, denn wir lassen es bei
ein/zwei Stunden bewenden, wir haben nämlich noch ein Stück
Weg vor uns und müssen Prioritäten setzen. Ausserdem kann
man hier ein Abendessen auf einem Ruderboot geniessen und wird dabei
durch den Park gerudert...sowas hätte man vorher wissen sollen! |
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Es lässt sich nicht leugnen: Berlin
rückt näher. Und wir liegen gut in der Zeit. Die letzten
noch verbleibenden Tagesetappen werden wohl um einiges kürzer
werden. Heute wollen wir bis Lutherstadt Wittenberg kommen. Dort hat
Martin Luther gewirkt und auch seine Thesen an das Tor der Schlosskirche
genagelt. Während ich diese Zeilen hier zu Papier bringe, ist
dieses Tor etwa 50 Meter von mir entfernt und ich sitze schon seit
längerem hier in diesem Strassencafé und lasse die Szenerie
auf mich wirken. Gerade herrscht ein wunderbares Spätnachmittagslicht,
fast wie wir es im September haben, die Luft ist klar und es ist relativ
kühl und Turmfalken kreisen um den Turm der Schlosskirche. Hier
in Wittenberg geht es recht lebhaft zu, die Stadt ist ein Touristenmagnet
und das besagte Kirchentor natürlich DAS Fotomotiv. Ausserdem
sehe ich hier erstaunlich viele Radreisende, die wohl meistens den
Radweg entlang der Elbe fahren (kommt auch noch auf die To-do-Liste...).
Ich kann nicht genau sagen, warum das so ist, aber es berührt
mich ungemein, dass ich hier bin. Ich hab mich vorher gar nicht so
mit dieser Stadt und ihrer Geschichte auseinander gesetzt, aber jetzt
geht es mir sonderbarerweise nahe...Hm...
Wie war denn der heutige Tag? Im Wörlitzer Hof ist - bedingt
durch die Hochzeitsfeiern - natürlich erst weit nach Mitternacht
Ruhe eingekehrt und wir mussten geräuschebedingt mit geschlossenen
Fenstern schlafen. Beim Frühstück ist der Spuk dann ganz
vorbei und alle Spuren der Feierlichkeiten sind beseitigt. Die Hochzeitsgesellschaft,
die sich zum Grossteil auch hier einquartiert hatte, schläft
noch und wir sitzen am Fenster, blinzeln ins Morgenlicht und schauen
zu, wie draussen vor dem Haus die Strasse gefegt wird.
Das klare und kühle Morgenwetter gibt uns dann den Rest, ich
meine damit, es weckt uns weit mehr auf, als es Dusche und Kaffee
tun könnten. Oder vielleicht ist es auch das Pflaster, dass uns
wachrüttelt, bis wir aus der Stadt geradelt sind. Auf jeden Fall
gleiten wir nach Ortsende auf gutem Asphalt auf den ersten Point of
Interest zu, auf Oranienbaum, bekannt durch seinen quadratischen Marktplatz
mit den barocken Häuserfassaden und dem Schloss. Im Reiseführer
steht geschrieben, Henriette Catharina von Oranien-Nassau hat hier
anlässlich ihrer Vermählung ein Dorf geschenkt bekommen:
"Oh, ihr heiratet? Was wünscht ihr euch zur Hochzeit? Braucht
ihr Geschirr oder eine Waschmaschine oder habt ihr eine Geschenkeliste?"
"Ach, zerbrich dir darüber nicht den Kopf, ich bin schon
mit einem Dorf zufrieden!"
Das Schloss in Oranienbaum ist renovierungsbedürftig und so früh
am Morgen noch geschlossen und die Strasse davor ist gerade aufgerissen
und der Marktplatz ist nun nicht soo sonderlich interessant, vor allen
Dingen nach der gestrigen Besichtigung von Wörlitz haut uns das
jetzt nicht vom Hocker. Vielleicht sind wir doch noch nicht so ganz
wach?
Minuten später finden wir uns in dichtem Wald wieder und noch
ein Weilchen später auf einer einsamen Heidefläche, über
die der Wind fegt und das Gefieder der Kiebitze und Nebelkrähen
zerzaust. Hier in der Gegend wurde Braunkohle abgebaut und jetzt,
da das alles hier stillgelegt ist, wird saniert bzw. renaturiert.
An einem Baggersee wurde ein Freilichtmuseum eingerichtet, wo man
die riesigen Abbaumaschinen besichtigen kann, das Ganze nennt sich
"Ferropolis". Wir statten aber dieser Stadt aus Eisen keinen
Besuch ab, da uns die paar Kilometer bis dorthin nicht rentabel genug
erscheinen, ausserdem dröhnt es von dort dumpf und rhythmisch
herüber - dort geht eine Technoparty ab. Und das Volk dort hat
wohl die ganze Nacht durchgefeiert und tanzt immer noch oder man hat
schon so früh angefangen (es ist gerade mal halbzehn), eins von
beiden.
Dann wieder Mischwald. Eine melodische und noch nie gehörte Vogelstimme
kann ich nicht einordnen und muss auf Margrits Frage hin passen. Naja,
man kann ja nicht alles wissen. Wir erreichen den Bergwitzsee, das
ist ein Baggersee mit Campingplatz, und gönnen uns in der Campingplatz-Kneipe
ein zweites Frühstück, das uns die Pächterin erst nicht
mehr verkaufen will, weil wir schon ein paar Minuten über der
Zeit sind. Aber dann taut sie doch auf und wir lassen uns von den
Dauercampern misstrauisch beäugen. Das ist hier also nicht anders
wie überall in Deutschland: als Etappenreisender gilt man, den
Stationären gegenüber, als Vagabund.
Dann ist es nur mehr ein Katzensprung bis Wittenberg. Wir nähern
uns wieder der Elbe und sehen die Türme der Stadt über dem
Fluss auftauchen. Keine moderen Wohnblocks oder Gewerbegebäude
trüben dieses Panoramabild. Schön ist das.
Das war also die heutige Etappe - sie war abwechslungsreich und angenehm
wegen ihrer Kürze. In Wittenberg angekommen, hat es zuerst ein
Weilchen gedauert, bis wir ein passendes Hotel gefunden haben, denn
die Stadt ist gut besucht, wie oben schon geschildert. Und wer hier
nicht schon alles war: Von Napoleon bis Goethe, von Schiller bis Maxim
Gorki! Überall an den alten Häusern kann man auf Schildern
nachlesen, wer entweder hier geboren ist , gewohnt oder sich einquartiert
hat oder gestorben ist.
Und jetzt sitzen wir eben hier auf der Terasse vor dem Hotel-Restaurant
"Alte Canzley" und beobachten Passanten und lassen uns von
der Wirtin erzählen, wie hier die Auflagen des Denkmalschutzes
und der Stadtverwaltung mit der Bewirtschaftung von Restaurant und
Hotel korrespondieren. Die angenehme Terasse mit den paar Tischen
und Stühlen wird Ende dieser Sommersaison abgerissen werden,
da sie in unmittelbarer Nähe der Schlosskirche das ganze Ensemble
angeblich empfindlich stören würde. Dabei ist es so ein
schöner Ort, um die Zeit verstreichen zu lassen und über
die Wechselfälle der Menschheitsgeschichte nachzudenken. Ausserdem
erfahren wir, dass ein Bauherr, der hier in Wittenberg ein Haus kaufen
und es renovieren möchte, aus eigener Tasche die Archäologen
bezahlen muss, die dann anrücken und das ganze Arreal untersuchen.
Was dabei dann für Folgekosten entstehen, kann niemand abschätzen
und was es für den Bauherrn bedeutet, wenn man dann fündig
wird, steht ebenfalls in den Sternen. Wundert man sich dann, wenn
hier nur zögerlich investiert wird? Der Amtsschimmel wiehert
halt einfach gerne...
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Kennt jemand den Flaucher in München? Das ist
ein Abschnitt des Isarufers in der Nähe des Tierparks Hellabrunn.
Und dort darf man sich textilfrei sonnen und auch in diesem Zustand
in die kühlen Fluten der Isar waten (sofern es nicht wieder
Bakterienalarm gibt). Ich weiss, das ist jetzt natürlich schon
ein Sprung - von Luther zu FKK. Und doch: ich sitze gerade splitternackt
in der SteinTherme
Belzig herum und schreibe Tagebuch. Das werfe ich jetzt einfach
mal als mehr oder weniger pikantes Detail hier in die Runde, damit
ihr was zum Schmunzeln habt. Wir haben es nämlich heute wieder
mal ausserordentlich gut erwischt: wir sind zufälligerweise
in einem Kurort mit Solbad gelandet und geniessen vom Nachmittag
bis zum frühen Abend das Angebot dieser Therme hier. Heute
ist Montag und da ist textilfrei angesagt. Ausserdem gibt es hier
etwas sehr Beeindruckendes, nämlich einen Licht-Ruhe-Raum,
ein Extrabecken in einer abgedunkelten Halle. Dort muss/darf man
schweigen, es tönt leise meditative Musik aus Lautsprechern
und zum Kerzenschein werden noch bunte Farbflächen an die Wände
projeziert. Da fühlt man sich gleich wieder wie im Mutterschoss
und meint in der Ursuppe zu schwimmen. Und will gar nicht mehr raus.
So, und eigentlich sollte ich auch noch ein wenig von der heutigen
Tagesetappe berichten. Man kann sich schon denken: 40 km sind nun
wahrlich nicht die Welt! Uns erscheint aber diese Tagesleistung
gerade richtig, wir sind nämlich allmählich ein wenig
radl-müde geworden. Das kommt mir in den Sinn, als ich mich
im Aussenbecken (dazu milde Abendsonne) von den in der Beckenwand
eingelassenen Düsen durchrubbeln lasse (übrigens eine
angenehme Erfahrung, so ganz ohne Bekleidung: da zieht es einem
nämlich nicht dauernd die Badehose vom Allerwertesten) und
Margrit gerade das ganze hier angebotene Sauna- und Massageprogramm
abspult.
Heute haben wir ebenfalls Glück mit dem Wetter. Kurz nachdem
wir Wittenberg verlassen haben, geht es in beständig leichtem
Auf und Ab durch die Wälder des Hohen Fläming. Anstrengend
ist dabei, dass man sehr konzentriert fahren muss, um den Schlaglöchern
auf dem Feldweg auszuweichen. Hier komme ich das erste und einzige
Mal auf der gesamten Reise an die Grenzen des Konzeptes Liegerad,
denn mit meinem Velo kann ich nicht direkt vor mich auf dem Boden
blicken, sondern sehe, ähnlich wie beim Auto, erst nach 3 oder
4 Metern vor mir auf den Boden. So ermüdet mich diese Passage
und hält vom Naturgenuss ab. Dabei sind die Wälder hier
besonders sehenswert, scheinen naturbelassen und sind ruhig. Man
müsste hier wirklich wandern und nicht radfahren, denn das
Knirschen der Reifen auf dem Boden lässt die Geräusche
des Waldes nicht zur Geltung kommen. Oder einfach nur dasitzen und
zuhören. Aber das geht nicht mit dem Konzept dieser Reise zusammen
und das ist schon in Ordnung so, wie war das noch mit den Prioritäten
und so? Immerhin sehe ich heute das erste Mal eine Vogelart, die
ich bisher noch nie zu Gesicht bekommen habe, nämlich den Neuntöter.
Ausserdem fällt mir ein, dass man hier im Osten noch sehr viele
Mehlschwalben sieht, die für ihren Nestbau blosse Erde brauchen.
Bei uns ist ja inzwischen bald das letzte Fleckchen Erdboden versiegelt
und zubetoniert.
Ein Linksknick, eine Rechtskurve. Wir verlassen Sachsen-Anhalt und
sind nach ein paar Metern in Brandenburg. Das merkt man sofort an
der Beschaffenheit der Radwege: hier hat man fleissig asphaltiert
und ganz vorbildlich Schilder mit Entfernungsangaben aufgestellt.
Auch die Dörfer sind hier herausgeputzt und das Kopfsteinpflaster
der Ortsdurchfahrten weitestgehend verschwunden. Ausserdem hört
man jetzt die Sprache, die ich in meiner Unbedarftheit als preussisch-berlinerisch
einstufen würde.
Das Städtchen Belzig haben wir uns als heutigen Zielort auserkoren,
weil es relativ genau in der Mitte zwischen Wittenberg und Potsdam,
dem morgigen Ziel, liegt. Wir haben allerdings nicht im Traum daran
gedacht, hier dieses Thermalbad vorzufinden und es kommt uns, gelinde
gesagt, wirklich sehr gelegen. Ein Hotel finden wir im Neubaugebiet
nebenan. Hier ist eine moderne Wohnsiedlung entstanden, die aussieht,
als ob jemand mit dem Staubsauger durchgelaufen wäre. Einzig
vor unserem Hotel steht ein älteres Haus, dass mich sehr an
mein Grosselternhaus erinnert: sehr einfach, ein kleiner Garten,
ein Birnbaum vor der Haustür.
Fazit: der heutige Tag war ein Wellness-Tag.
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In der Nacht ein Gewitter mit dazugehörigem
Regenguss. Das war zu erwarten, denn als wir am frühen Abend
aus der Therme nach Hause gewandert sind, hat sich das schon angebahnt.
Als wir frühstücken und aus dem Fenster blicken, schaut's
gar nicht gut aus. Doch als wir schliesslich heraus aus der Stadt
und in die Landschaft gleiten, gewinnt die Sonne wieder die Oberhand
und vertreibt die Wolken noch einmal. Auf gut ausgebauten Radwegen
radeln wir voran. Um 10 Uhr zeigt der Tacho schon 30 gefahrene Kilometer
an, allerdings kommt langsam die grosse Kiefernwald-Paranoja, weil
wir bestimmt schon seit zwei Dutzend Kilometern nichts als Bäume
und den Weg vor uns sehen. Stimmt nicht ganz: zweimal sahen wir von
einer Brücke aus die viel befahrene Autobahn nach Berlin und
einmal einen kollosalen Keiler, der vielleicht hundert Meter entfernt
auf einem Waldweg verweilt.
Als wir uns Potsdam nähern und an den Havelseen entlang fahren,
hat sich der Himmel schon längst wieder mit einer dichten Wolkendecke
überzogen und die ersten Tropfen fallen vom Himmel. Noch ist
uns eine Schonfrist vergönnt, aber auf dem letzten Kilometer
bis zum Hotel erwischt es uns dann doch noch kräftig, so dass
wir klitschnass vor dem Tresen an der Rezeption stehen. Es ist Mittag
und wir haben die 58 km in einem ziemlichen Tempo zurückgelegt,
ohne uns dessen bewusst gewesen zu sein. Also Zeit für einen
Mittagsschlaf, das Wetter ist ja, wie gesagt, eh danach.
Wir sind in der Geschwister-Scholl-Strasse untergebracht und unser
Hotel liegt direkt am Park Sanssouci. Dieser ist recht umfangreich
und schon als wir die Strecke von unserem Eingang bis zum neuen Palais
zurücklegen, stellen wir fest, dass wir die spezielle Besichtigungsroute,
die uns unsere Herbergsmutter eigenhändig in den Plan des Parks
eingezeichnet hat, unmöglich ganz abwandern können, also
kürzen wir auch hier ein bisserl ab, sieht ja niemand...
In den letzten Monaten ist mir in Zürich regelmässig ein
Foto der Schlossanlage aufgefallen, mit dem Werbung für Städtereisen
der Bahn gemacht wurde. Und jetzt bin ich selber hier. Ich kann mir
nicht helfen, irgendwie stellt sich Ernüchterung ein und dieses
"So-What?"-Gefühl, dass ich oft habe, wenn ich bekannte
und berühmte Orte plötzlich selber mit eigenen Augen sehe.
Hier kommt noch dazu, dass ich mir den ganzen Park samt dazugehörigen
Bauwerken gepflegter vorgestellt habe und nicht so - verzeiht - "abgefuckt".
Dass die Orangerie sehr heruntergekommen ist, mag ja noch angehen.
Aber dass dieses wichtige Schloss hier, Sanssouci selber, dass man
auf sovielen Werbefotos sieht, so ungepflegt aussieht, das verwundert
mich dann schon. Der Rasen nicht gesprengt, die Zierbäumchen
sind nicht zugeschnitten worden, die Kies- und Sandwege nicht gepflegt.
Und auf den berühmten Wein-Terassen blättert der grüne
Lack an den Glastüren ab (und zwar grossflächig). Hm...ich
kenne die Hintergründe nicht, das gebe ich zu und ich lasse mich
da auch gerne korrigieren und eines Besseren belehren, aber im Vergleich
zu der hervorragend umsorgten Parkanlage in Wörlitz ist das hier
eine Enttäuschung. Nichtsdestoweniger ist das ganze Arreal natürlich
eine grossartig angelegte Anlage und der alte Fritz wusste wohl schon,
was er (auf Kosten der Bevölkerung) tat.
Wir schlendern weiter zur Potsdamer Innenstadt und treiben uns noch
ein wenig im holländischen Viertel (hier schliesst sich ein Kreis)
herum und marschieren anschliessend zur Fussgängerzone, wo wir
in einem Strassenrestaurant landen und zuerst ein Eis und später
unser Abendessen zu uns nehmen. Dort, es ist eine Shopping-Meile,
kann man die verschiedensten Leute beobachten. Unter anderem auch
eine schicke Frau in elegantem Hosenanzug, die, aus einer Boutique
kommend, die Hosenbeine hochkrempelt, sodass schlanke Fesseln und
hochhackiges Schuhwerk sichtbar werden und ihr Fahrrad aufschliesst
und davonstrampelt. Und während wir da beobachtend und kommentierend
und schreibend und lesend den Rest des Nachmittags und des frühen
Abends verstreichen lassen, kommt eine so grosse Müdigkeit über
uns, dass wir später zum nächsten Taxi-Stand wanken und
uns bis vor die Hoteltür chauffieren lassen. |
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"BMW-Fahrer sind widerwärtig, aber, denk
mal an mich, markentreu!" "Ach, du bist ja auch so ein
oberflächlicher Mensch!" Solche Nettigkeiten und gewiss
fundierte Meinungen dringen vom Nachbartisch an unser Ohr. Wir sitzen
im Restaurant des Aussichtsturmes Grunewald und blicken ab und zu
verstohlen zu den zwei Herren hinüber, von denen jeder den
anderen von etwas überzeugen will. Einer von ihnen scheint
um einiges wohlhabender als der andere zu sein und gibt mit seinem
Fuhrpark an. Da kann man sich schon auch ein bisserl amüsieren,
finde ich.
Wir sind heute, an diesem letzten Etappentag, bereits ein paar Kilometer
gefahren. Zuerst ein kleine Irrfahrt in Potsdam, weil angesichts
einer Grossbaustelle die Beschilderung des R1 nicht aufzufinden
war. Die Richtung ist jedoch klar und wir konnten uns an den Strassenschildern
für die Autofahrer orientierten. Berlin-Zentrum - das ist unsere
final destination. Aber so schnell geht's dann doch noch nicht.
Zuerst fahren wir über die Glienicker Brücke und am Wannsee
entlang, tauchen - wie am Schluss der gestrigen Etappe - ein in
die Wälder und Seenlandschaft vor den Toren der grossen Stadt.
Wo vor einer halben Stunde noch blauer Himmel war, baut sich jetzt
alles mit grauen Wolken zu, der Wind frischt noch mehr auf und schiebt
von hinten und es sieht so aus, als ob wir wieder mal bei strömenden
Regen unser Ziel erreichen.
Für den Augenblick ist es noch trocken und wir kommen allmählich
in die Nähe der Stadt. Seit gestern kommt mir immer ein Lied
der kölner Rockband BAP in den Sinn, das sie auf ihrem letzten
Album veröffentlicht haben. Es heisst "Unger Linde en
Berlin" und ich kann die Melodie und den Text, soweit ich mich
an ihn erinnern kann, nicht aus dem Kopf verbannen und summe vor
mich hin. Dabei läge heute "Das ist die Berliner Luft
Luft Luft" näher. Aber das höre ich später noch
als Klingelzeichen von mehreren Mobiltelephonen.
Grunewald mit seinen Villen und Gärten, ein paar Kilometer
weiter treffen wir auf den Kurfürstendamm. Hier gibt's nochmals
einen Kaffee und wir versuchen zu begreifen, dass wir jetzt wirklich
in Berlin sind und die ganze Strecke (bis auf die eine Tagesetappe
zwischen Goslar und Quedlinburg) von Holland bis hierher geradelt
sind. Am Schluss wird der Kilometerzähler knapp über 1000
Kilometer anzeigen.
Aber jetzt ziehen sie sich noch, diese letzten Kilometer, obwohl,
wie oben schon geschrieben, von hinten kräftig geschoben wird:
Bismarckstrasse...Tiergarten...der Grosse Stern mit der Siegessäule...Strasse
des 17. Juni...alles kerzengerade...und dann endlich, auf unserer
Seite von einer Baustelle umgeben und somit optisch seiner Grösse
beraubt, das Brandenburger Tor! Wir sind wirklich angekommen!
Das muss man jetzt dann doch erstmal verdauen. Und auf sich wirken
lassen. Am besten in eine Café. Ein solches findet sich gleich
neben dem Brandenburger Tor mit Blick auf den Pariser Platz und
das Hotel Adlon. Neeeein, jetzt passiert eben NICHT was ihr vielleicht
vermutet: das Adlon ist uns dann doch mehrer Kragenweiten zu gross
(obwohl Margrit verdächtig oft hinüber schielt...)!!!
Es wird Zeit, sich auf die Suche nach unserem Hotel zu begeben,
das in Berlin-Mitte in der Kastanienallee liegt. Also mit dem Velo
durch die Berliner Innenstadt...Unter den Linden, ein romantisch
klingender Name, in der Realität eine grosse Baustelle, dann
die Friedrichstrasse und Ampeln und Stadtverkehr und gleichzeitig
Blick auf den Stadtplan und irgendwann sind wir angekommen - immer
noch trockenen Fusses. Ging besser als erwartet.
Zu regnen beginnt es erst, als wir uns am frühen Abend auf
eine erste Besichtigungstour begeben.
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Der Rest ist schnell erzählt. Wir sind jetzt keine Radreisenden
mehr, sondern Touristen, die eine Grossstadt besichtigen. Die Räder
verschwinden im abschliessbaren Schuppen des Hotels, wir suchen
in den Tiefen unserer Packtaschen nach den am wenigsten nach Tourist
aussehenden Kleidern und buchen für Donnerstag eine City-Sightseeing-Tour
mit einem Doppeldeckerbus. Und das stellt sich als sehr gute Idee
heraus. Ausserdem herrscht den ganzen Donnerstag über ein dermassen
mieses Wetter, dass für eine Besichtigung der Stadt per pedes
Gummistiefel oder ein Schlauchboot nötig wären. Aber mit
dem Bus ist es OK. Wir erfahren allerhand Hintergrundwissen, viel
Geschichtliches, bekommen einen groben Überblick über
die Stadt und entdecken für uns den Gendarmenmarkt, der uns
auf der ganzen Rundfahrt am besten gefällt.
Bombast. Wohin man blickt. Das fängt beim Dom und den Bauten
auf der Museumsinsel an und endet mit all den neuen Regierungsgebäuden
noch lange nicht. Mir wird da immer ein bisserl komisch zu Mute
und der Grössenwahn und Anspruch früherer und gegenwärtiger
Generationen macht mich schwindlig. Andererseits wird in Berlin
auch und vor allen Dingen jetzt Geschichte geschrieben und das ist
eben auch ein interessantes Gefühl. Es wird gebaut wie verrückt,
renoviert und abgerissen und neu gestaltet und es sind an diesem
Tag letztendlich soviele Eindrücke, dass ich gar nicht alles
berichten kann. Viele von euch waren ja selber schon in Berlin und
wissen, wie es dort aussieht.
An unserem letzten Urlaubstag, dem Freitag, ist uns nochmals besseres
Wetter vergönnt. Nachdem wir am Morgen mit den Räder zum
Bahnhof Zoo geradelt sind und diese in der Gepäckaufbewahrung
deponiert haben, verbringen wir den Tag im Tierpark. Und am Spätnachmittag,
müde vom ständigen Herumlaufen, sitzen wir im Café
vor dem Bahnhof Zoo und beobachten das Leben hier vor dem Bahnhof
und jeder von uns macht wohl seine eigene Bilanz dieser Reise: all
die Sehenswürdigkeiten und Landschaften, unsere Tagesstimmungen
und die getroffenen Entscheidungen und der ganze Reisestil überhaupt.
Wir stimmen darin überein, dass es unsere schönste und
interessanteste Reise war. Und das vieles auf dieser Reise eine
logische Weiterentwicklung der letzten Veloreisen war. Es gab keinerlei
Pannen mit den Rädern. Bis auf die Kleinigkeit, dass sich Margrits
Fahrradständer immer wieder losrüttelte und ich ihn mehrmals
wieder festschrauben musste. Aber ansonsten lief alles problemlos
und unsere Drahtesel haben sich aufs Neue bewährt. Besonders
angesichts der Strassenverhältnisse in Sachsen-Anhalt ist das
eigentlich fast ein Wunder. Ich hatte das erste Mal seit langem
keinerlei Knieschmerzen, die Speedmachine ist wirklich wie für
mich gemacht und passt mir wie angegossen.
Ich selber bin mir noch nicht so ganz sicher, ob es gut war, am
Schluss dieser an Eindrücken so reichen Reise auch noch zwei
Tage in Berlin zu verbringen. Nicht wegen Berlin als solches, sondern
weil diese beiden Tage so völlig anders waren als unser täglicher
Rhythmus während der ersten drei Wochen, dass sie fast so etwas
wie eine Schneise zwischen dem ersten Teil der Reise und dem Ende
des Urlaubs schlagen. All die Impressionen und Stimmungen der Radreise,
die hauptsächlich von der Natur und den Landschaften und den
kleinen Städten geprägt waren, sind mit dem Eintauchen
in die Grossstadt verschwunden und das Bild, dass ich jetzt mit
mir herumtrage ist von letzterer geprägt. Ich weiss nicht,
ob ich das hier so richtig vermitteln kann und ob das jemand nachvollziehen
kann, ich muss mich wohl diesbezüglich selber noch sortieren.
Jedenfalls sind jetzt im Augenblick, wo ich vor dem Bahnhof sitze
und die Geschäftigkeit um mich herum betrachte, alle Erlebnisse
der ersten Tage und Wochen wie in einen Kokon, wie in Watte verpackt
und ich hoffe, ich kann ihre Intensität zuhause nochmals hervorrufen.
Dann wird es endlich Zeit, die Räder zu holen, sich auf den
Bahnsteig zu begeben, Blicke und ein paar Sätze mit den anderen
Radreisenden auszutauschen, die ebenfalls mit dem Nachtzug fahren.
Einladen der Räder in den Waggon. Hier gibt's noch einen kleinen
Tumult, weil die ersten Fahrgäste, die wohl im Ostbahnhof zugestiegen
sind, ihre Velos nicht an die richtigen Plätze gehängt,
sondern anscheinend nicht kapiert haben, dass die Plätze hier
numeriert sind. Und diese Räder sind auch noch mit Schlössern
an die Bügel der Halterungen angeschlossen. So gibt das eben
einen Domino-Effekt, weil jeder der nachkommt, seine Räder
an einem noch freien Platz abstellt und der letzte dann vielleicht
der Dumme ist. Einer der zuletzt Zusteigenden ist jedenfalls stinkesauer,
weil er nicht an seinen ihm zustehenden Platz kommt und ich kann
ihn schon irgendwie verstehen. Manchmal kann man es sich und anderen
durch eine kleine Achtlosigkeit schon auch schwer machen, oder?
Diesmal haben wir nur ein einfaches Zweierabteil, es geht nicht
so komfortabel zu wie zu Beginn der Reise. Aber wir werden besser
schlafen als damals. Doch zuerst noch ins Zugrestaurant und ein
bisserl bei Rotwein und Erdnüssen der Reise nachspüren
und die nötige Bettschwere erreichen, denn trotz der Müdigkeit
sind wir beide aufgeregt. Margrit und ich sind inzwischen (nach
mehr als einem Dutzend Radreisen) ein sehr gut eingespieltes Team,
wir schweben auf einer Wellenlänge und wissen, was wir uns
gegenseitig zutrauen können und wo die jeweiligen Bedürfnisse
liegen.
Es war eine wunderbare Reise!
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